Editorial

Psychotherapie-Wissenschaft 12 (1) 2022 5–6

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https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-1-5

Das Thema dieses Hefts hat einen aktuellen Anlass. Die routinemässige Evaluation von Psychotherapieverläufen in der täglichen Praxis wird politisch immer mehr zum Thema. Hat das Bundesamt für Gesundheit in der aktuellen Akkreditierungsverordnung als Kriterium für die Wieder-Akkreditierung von Weiterbildungsgängen festgehalten, dass diese ein Qualitätskonzept zur Evaluation derjenigen Therapien, die Lernende im Rahmen ihrer Weiterbildung durchzuführen, vorzulegen haben, so kam mit dem Wechsel vom Delegations- zum Anordnungsmodell zur Abrechnung der Psychotherapie zulasten der Krankenkassen auch die Diskussion auf, wie ein Qualitätskonzept der einzelnen Praxen aussehen soll. Dabei wird neben der Struktur- und Prozess- auch die sogenannte Ergebnisqualität zu evaluieren sein. Noch ist nicht klar, was für konkrete Anforderungen die Tarifpartner und das BAG wirklich aushandeln werden, dennoch tun PsychotherapeutInnen gut daran, sich mit den Möglichkeiten der Evaluation von Therapieverläufen zu befassen. Was für Instrumente eignen sich? In welchem Wissenschaftsverständnis soll evaluiert werden?

Psychotherapieevaluation fand bisher meist im Rahmen der Wirksamkeitsforschung statt, nicht in der täglichen Praxis, ausser in Kliniken und manchen Ambulatorien. Auch in der Forschung gibt es eine heftige Debatte über die Methodenfrage und geeignete Forschungsdesigns. Die aktuelle Psychotherapieforschung zeigt, dass es nicht die Methode ist, die den Erfolg ausmacht. Über alle Schulen betrachtet sind die Resultate ähnlich. Hingegen zeigt sich, dass es in allen Therapierichtungen TherapeutInnen gibt, die bessere, mittlere oder schlechtere Ergebnisse erzielen. Das führte dazu, dass heute in der Forschung vermehrt die Frage nach den Skills der TherapeutInnen und nach der Passung der Persönlichkeiten von TherapeutIn und PatientIn in den Fokus gerückt ist als die Methodenfrage. Insofern ist es nicht abwegig, wenn von Therapierenden erwartet wird, dass sie über ein Qualitätssicherungs- bzw. Qualitätsentwicklungsmodell verfügen, in dem die Ergebnisqualität mitberücksichtigt wird in der Form eines routinemässigen Monitorings der Therapieverläufe, sodass auch aus Fehlern gelernt werden kann.

In diesem Heft finden sich fünf Beiträge zum Titelthema, die verschiedene Möglichkeiten aufzeigen.

Peter Schulthess führt in seinem Beitrag in das Thema ein und publiziert in einem zweiten Teil eine Zusammenstellung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe, die Empfehlungen zu Händen der Weiterbildungsanbieter erarbeitet hat und eine Übersicht validierter Instrumente bietet. Die Arbeitsgruppe empfiehlt den Einsatz verschiedener Mittel: systematische Dokumentation des Prozesses, Supervision oder Qualitätszirkel und den Einsatz wenigstens eines Instruments und einer Form der gemeinsamen Erkundung und Evaluation des Prozesses, wo auch die Sicht der PatientInnen erfasst wird: Interview oder Symptombelastungsfragebogen.

Alice Holzhey kritisiert in ihrem Beitrag eine Verengung des Wissenschaftsverständnisses der universitären Psychologie, das sich ihrer Meinung nach zu sehr an einem naturwissenschaftlich-empirischen Modell orientiert. Sie plädiert dafür, dass die Mittel, mit denen Verläufe dokumentiert und evaluiert werden, der jeweiligen Therapierichtung angepasst sein sollen, und spricht der geisteswissenschaftlichen, philosophischen Wissenschaftstradition der Hermeneutik das Wort zu. Veränderung in Psychotherapien bloss auf der Ebene der Symptomveränderung zu belegen, ist für sie zu eingeengt, da hier ihrer Meinung nach dem innerpsychischen Prozess zu wenig Rechnung getragen wird. In der Heidelberger Umstrukturierungsskala sieht sie einen tauglichen Ansatz, auch Veränderungen der seelischen Strukturen erkennen zu können.

Elisa Tommasin zeigt in ihrem Beitrag eine Falldarstellung, wie sie aus einer systematischen Dokumentation eines Therapieverlaufs erarbeitet werden konnte. Vorangestellt ist eine Beschreibung des Therapiemodells. Dann beschreibt sie den Anlass zur Therapie, gefolgt von Erläuterungen zum Verlauf (mit Bezug zum theoretischen Modell). Zum Abschluss findet die Selbsteinschätzung der Patientin zum Therapieverlauf und -ergebnis Eingang in die Falldarstellung. Das ist ein schönes Beispiel eines qualitativen Forschungsansatzes zur Evaluation von Therapieverläufen.

Günter Schiepek stellt mit dem Synergetischen Navigationssystem (SNS) ein ausgeklügeltes Modell eines Monitorings dar, das qualitative und computergestützte empirische Ansätze verbindet. Das computergestützte Monitoring mittels einer App, das PatientInnen zur Verfügung gestellt wird, erlaubt den Therapierenden, allfällige Fehlentwicklungen im Therapieprozess schnell zu erkennen und in der nächsten Therapiestunde zu thematisieren. Therapieziele und zu beobachtende Kriterien werden zu Therapiebeginn gemeinsam festgelegt.

Paolo Migone stellt Abstracts von interessanten Artikeln zum Thema «Therapieevaluation» aus der Zeitschrift Psicoterapia e Scienze Umane zusammen.

In der Rubrik «Originalbeiträge» folgen vier weitere Artikel.

Nane Ohanian gibt in ihrem Beitrag Einblick in eine deutsche Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, wie PatientInnen mit und ohne Migrationshintergrund unterschiedlich mit psychischer Erkrankung umgehen. Es zeichnet sich ab, dass PatientInnen mit Migrationshintergrund eher schambesetzt über ihre psychischen Erkrankungen kommunizieren, häufig aus kulturellen Gründen. Die Autorin macht eindrücklich deutlich, wie essenziell ein sowohl inter- als auch transkultureller psychopathologischer Ansatz zur Gewährleistung einer zufriedenstellenden psychosozialen Versorgung in der Behandlung von MigrantInnen ist.

Magdalena Schwabegger und Christiane Eichenberger präsentieren eine Studie aus Österreich über sexuelle Grenzverletzungen und -überschreitungen in Psychotherapien. Etwa 10% der PsychotherapeutInnen begehen sexuelle Grenzverletzungen oder -überschreitungen, was bei betroffenen PatientInnen grosses Leiden verursacht und Folgetherapien erheblich belasten und erschweren kann. Ziel der Studie war es, Folgen für die PatientInnen und den therapeutischen Umgang von FolgetherapeutInnen aufzuzeigen. Die Autorinnen schliessen mit der Empfehlung, dieses Thema in der Aus-, Weiter- und Fortbildung in Psychotherapie zu verankern, da sich zeigte, dass viele FolgetherapeutInnen ein Vorgehen wählten, das nicht den empfohlenen Regeln entspricht.

Lucia Beltramini schreibt zum Thema der Gewalt unter Jugendlichen und zu Beobachtungen zu Teen Dating Violence in Zeiten der Pandemie. Daten aus einer Erhebung vor der Pandemie zeigen, dass etwa 10% der Jugendlichen in Paarbeziehungen Formen von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erleben. Während der Lockdown-Phasen hat sich dies aufgrund des gesundheitlichen Notstands verstärkt. Die Schliessung von Schulen und Diensten während der Pandemie hat die Suche nach Hilfe erschwert. Die Autorin beschreibt, mit welcher Haltung betroffenen Jugendlichen begegnet werden kann.

Mara Foppolis Beitrag behandelt ebenfalls ein Thema mit Jugendlichen während der Pandemie. Sie berichtet, gestützt auf verschiedene Studien, über die psychischen Belastungen. Die Pandemie habe als Verstärker für soziale Ungleichheit und der damit verbundenen Entwicklungsrisiken gewirkt. Sie beklagt den Mangel an psychiatrisch-psychotherapeutischen Hilfsangeboten für Jugendliche und fordert einen niederschwelligen Zugang zur psychosozialen Unterstützung und frühen Erkennung. Sie schlägt Kanäle wie Telefon, Chat, E-Mail, Social Media, Plattformen und Apps vor.

Zum Abschluss dieses Hefts findet sich von Peter Schulthess eine Besprechung des Buches von Christian Fuchs: Der Körper, das Trauma und der Affekt. Theorie und Praxis der Polyvagaltheorie in der Psychotherapie (2021).

Dieses Heft hat nebst dem Heftthema einige Besonderheiten: Zum ersten Mal publizieren wir gleich drei Beiträge in italienischer Sprache mit deutscher Übersetzung. Das Thema von Therapien mit Kindern und Jugendlichen ist normalerweise auch nicht so stark vertreten, erschien uns aber äusserst relevant, da seit Pandemiebeginn die psychische Belastung der jungen Generation stark zugenommen hat und die Folgen dieser Entwicklung das psychosoziale Versorgungssystem an seine Grenzen bringen. Zudem gibt es eine Verbindungslinie zwischen verschiedenen Beiträgen zu sexueller Gewalt und Traumatisierung.

Wir wünschen eine anregende Lektüre.

Peter Schulthess & Lea-Sophie Richter