Ich werde dich für immer lieben,
auch wenn ich dich niemals geliebt habe

Elisa Tommasin

Psychotherapie-Wissenschaft 12 (1) 2022 33–40

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2022-1-33

Zusammenfassung: Der Text beschreibt die Durchführung einer noch andauernden psychodynamischen-psychogenerativen Psychotherapie, die im Oktober 2018 mit einem heute 18-jährigen Mädchen (hier Kora genannt) begonnen wurde, das vom derzeitigen Ehemann der Mutter sexuell missbraucht wurde. Kora beginnt ihre Therapie in einem posttraumatischen Zustand. Der gesamte erste Teil der Therapie dreht sich um die Wiederherstellung des Zugangs zur affektiven und emotionalen Welt: Sie hat keine Verbindung zu Gefühlen und Affekten, sie ist eine junge Frau, bei der die Ausscheidung durch Ausagieren erfolgt, die unüberlegt handelt. Im Laufe der Sitzungen schafft sie es, Zugang zu ihrer affektiven Welt zu erlangen und Erinnerungen und Empfindungen hervorzuholen, die mit dem Missbrauch, mit ihrer Vergangenheit und mit ihrem aktuellen Leben verbunden sind. Ihre Denkfähigkeit taucht auf der psychotherapeutischen Bühne auf und die Arbeit dreht sich um die Einbindung dieser Neuaktivierung. Dieser Text stellt Koras therapeutischen Verlauf dar, unterteilt durch drei Schlüsselmomente von wesentlicher Bedeutung, die durch die Schilderung von drei Träumen unterstrichen werden; gelesen und gedeutet im Licht einer besonderen Ausarbeitung des psychoanalytischen Modells nach Bion, das als Generative Psychologie (Marcoli, 1997) bezeichnet wird. Bei diesem Modell versetzt sich der Psychotherapeut in die Position eines symbolischen Repräsentanten des inneren Elternpaares: Diese psychische Funktion zielt auf das Umsorgen des Geistes – durch Begrenzung und Schutz – ab. Der einsetzende Prozess der Internalisierung der therapeutischen Figur als Repräsentantin des Elternpaares ermöglicht Kora den Zugang zu einem generativen Denken, indem sie sich Fragen stellt, die sie vertiefen kann, und indem sie sich in ihrem täglichen Leben selbst aktiviert, um Ergebnisse zu erreichen und die Erfüllung ihrer Wünsche zu verfolgen.

Schlüsselwörter: generative Psychologie, inneres Elternpaar, Traumdeutung, Psychotherapie für Heranwachsende, sexueller Missbrauch, dynamische Psychotherapie

Das Theoretisieren des inneren Elternpaars (IEP) ist einer der Stützpfeiler des psychogenerativen Modells (Marcoli, 1997, 2005; Marcoli & Branca, 2014); das Modell bietet die Deutungskoordinaten für die hier dargestellte Psychotherapie mit Kora. Das wichtigste Ziel dieser Methode besteht darin, das IEP des Mädchens zu reparieren und ihr die Fähigkeit zu geben, das IEP kontinuierlich zu konstruieren, zu dekonstruieren und erneut zu rekonstruieren. Dies erfolgt durch die Identifikation mit dem Therapeuten1, da dieser das innere Elternpaar repräsentiert.

Das psychogenerative Modell entsteht innerhalb eines psychoanalytischen konstruktivistischen Paradigmas (Viderman, 1982), unter Bezugnahme auf die ursächlichen bionschen, kleinianischen und freudianischen Mythen. Dieses Setting hat sich entwickelt, um den heutigen psychopathologischen Bedürfnissen entgegenzutreten, die ihr paradigmatisches Modell in Grenzfällen finden. Die Borderline-Problematik wird vor allem unter dem Gesichtspunkt des Denkens betrachtet, da der wesentliche Mangel dieser Patienten auf einer mangelnden Darstellung des Wunsches beruht: «Wunschgedanken können nur da existieren, wo es einen Gedanken gibt» (Green, 1991 [1974], S. 71). Und hier kommt Bion ins Spiel: Ein Gedanke entwickelt sich nicht spontan, sondern als Antwort auf die Frustration, die durch eine Begrenzung entsteht. Die Begrenzung erschafft gemäss Definition Frustration und die generiert einen Gedanken: In diesem Sinne ist die Funktion des Therapeuten als Repräsentant des inneren Elternpaars IEP von grundlegender Bedeutung.

Das IEP ist eine Funktion des Geistes, die sich um den Geist selbst kümmert; es ist jener innere Teil der Person, der sich um die Person selbst kümmert, sie schützt, sie begrenzt und den Wunsch in Richtung Reifung lenkt. Der Ödipuskomplex als symbolisierte und symbolisierende Struktur ist die Grundlage für die Entscheidung des Therapeuten, sich als Repräsentant des Vaters, der Mutter und des Elternpaares anzubieten. Der freudianische Ödipus wird während der psychogenerativen Arbeit kontinuierlich konstruiert und rekonstruiert: Denn ein Teil des Patienten widersetzt sich – gefangen von Neid und Eifersucht – hartnäckig dem Ausschluss vom Genuss des IEP. Und hier kommt der kleinianische Aspekt dieser generativen Sichtweise ins Spiel: Die Fähigkeit zur Reparatur und Rekonstruktion des IEP ist nämlich nur dank der von der Autorin theoretisierten «destruktiven-rekonstruierenden» Akte des gesamten Objekts möglich (der Übergang von einer paranoid-schizoiden zu einer depressiven Position).

Der Psychotherapeut muss sich bemühen, ein fürsorgliches und einladendes IEP zu repräsentieren, das gleichzeitig auch begrenzend und normativ ist: Ein Elternpaar, das das Kind aus seiner erotischen Verbindung ausschliesst, nicht mit sadistischen und bestrafenden Merkmalen, sondern um es ihm zu ermöglichen, selbst Genuss zu erzeugen und zu empfinden, indem es seine Wünsche in der Realität konkretisiert und verfolgt. Denn ein ausreichend gesundes IEP ermöglicht eine angemessene Fähigkeit, diese Begrenzung zu akzeptieren und zu verarbeiten, genauso wie ein gutes Verhältnis mit der Realität und der Objektbezogenheit. Diese Beziehung ist von grundlegender Bedeutung, da die reale Erfüllung des Wunsches dafür auch in der realen Welt stattfinden muss, in der man mit Kraft handelt, und nicht in der Traumwelt, die sich durch eine illusorische Allmacht auszeichnet. Denn im Geist existieren zwei antagonistische Arten der Repräsentanz: eine, die mit dem Narzissmus verbunden ist, traumähnlich und in der Lage, durch ein magisches und allmächtiges Abdriften begrenzende Hindernisse zu überwinden; und dann die andere Art, die mit dem Denken verbunden ist, als Fähigkeit, der Realität entgegenzutreten, indem die durch Begrenzungen entstehende Frustration bewältigt wird und indem ein Gedanke aktiviert wird, der auf die konkrete und operative Erfüllung des Wunsches gerichtet ist.

Die Identifizierung mit einem Therapeuten, der als gebieterisches, verantwortliches und schützendes Elternpaar Grenzen setzt und sich selbst begrenzt, ermöglicht es dem Patienten, diese Fähigkeit zu introjizieren: der Umgang mit dieser Begrenzung, mit dem Ausschluss aus der erotischen Beziehung der Eltern, die Handhabung und das Ertragen der dadurch entstehenden Frustration; auf diese Art und Weise kann das eigene Denken und die eigene Kraft aktiviert werden, durch die Suche und das Finden von Erfüllung und Freude in der Realität und in dem Anderen, ausserhalb des Verhältnisses zu den Eltern.

Diese Arbeit kann durch das Setzen eines Fokus auf die Übertragung, auf die «Hic-et-nunc»-Beziehung zwischen Patient und Therapeut, in einer kontinuierlichen Arbeit zur Erschaffung immer tieferer und generativer Bedeutungen durchgeführt werden. Der Fokus auf die Beziehung ist von grundlegender Bedeutung, denn das Besprechen und Verarbeiten der Beziehung mit dem Therapeuten/IEP ermöglicht es, die inneren Beziehungen zwischen den eigenen Teilen wiederherzustellen: Der Therapeut (die Beziehung) ist das Instrument, mit dem die intrapsychische Dynamik des Patienten und seine Objektbeziehungen abgeändert und wiederhergestellt werden können.

Diese Methode kann in einer konstruktivistischen Perspektive umgesetzt werden: Die Bedeutung jedes psychischen Ereignisses, insbesondere des Traums, wird nie ein für alle Mal auf- und entdeckt werden, sondern wird immer konstruiert und rekonstruiert. Die Erzählungen des Patienten, sowohl der Träume als auch der Realität, müssen immer im Licht der Übertragung gelesen werden, da der Therapeut einen Teil des Patienten selbst darstellt. Gerade der Traum ist eines der grundlegenden Instrumente des psychogenerativen Therapeuten, das dem Patienten hilft, die Fähigkeit zur kontinuierlichen Zerstörung und Reparatur seines IEP zu entwickeln. Die Bedeutung der Traumwelt des Patienten muss zusammen mit dem Therapeuten aufgebaut werden, wobei eine gemeinsame Sprache zu entwickeln ist (eine ausgewählte Tatsache), die eine Ordnung in die verwirrende Traumwelt bringt. Aus diesem Blickwinkel wird der «nur geträumte Traum» nicht nur als Überbringer einer noch verborgenen und noch zu entdeckenden Bedeutung wahrgenommen – nach der Entschlüsselungslogik des klassischen freudianischen Modells –, sondern ist auch das Rohmaterial, dessen Bedeutung im Rahmen der therapeutischen Beziehung konstruiert werden muss. Er hat also mehrere Bedeutungen und die interpretative Konstruktion beschränkt sie auf eine Reihe möglicher Bedeutungen (wenn auch nicht in unbegrenzter Anzahl). Weniger als um die Entdeckung der verborgenen Bedeutung des Traums, handelt es sich darum, die Transformationen zu fördern, die in den zukünftigen Träumen gefunden werden können: Diese teleologische Ausrichtung schlägt sich in dem Ziel nieder, das IEP und die Fähigkeit zur Reparatur, Zerstörung und Rekonstruktion desselben aufzubauen. Die Verfolgung dieses Ziels startet mit klaren und begründeten Postulaten, die als Koordinaten fungieren, die die vielfältigen (aber nicht unbegrenzten) Deutungskonstruktionen des Traums leiten. Insbesondere bietet sich der Therapeut von Anfang an als Repräsentant des IEP an, während der Patient die Rolle des Kindes einnimmt: Ausgehend vom Traum des Patienten, der wie eine Art Theaterszene betrachtet wird, deutet der Therapeut die Rolle des Elternpaars und sucht in dem enthaltenen Manifest des Traums, wo dieses Paar auftritt und wie es dargestellt wird. In Übereinstimmung mit dem Ödipus-Modell kann der Therapeut keine Rollen spielen, die ihn in die Position des Kindes, Partners und Geschwisters oder in die Position des Träumers selbst zwingen würden. Die im manifesten Traum vorkommenden Elternfiguren können vielfältig und unterschiedlich sein, aber auch gar nicht enthalten oder nur teilweise oder auf deformierte Art dargestellt sein: Die Theatralik der Deutung wird so zu einem besonderen und grundlegenden Element des generativen Modells. Es unterliegt der Kreativität und der «Rêverie» des Therapeuten, wo und wie er sich in den Traum einfügt (nachdem er überprüft hat, ob dort Platz für ihn ist), und er kann auch entscheiden, die Rolle, die der Patient ihm zuzuweisen versucht, abzulehnen oder auch anzunehmen, aber dabei den Verlauf und die Verflechtungen des Traumgeschehens zu verändern und eine alternative Version dieser Rolle vorzuschlagen (falls der Patient versucht, dem Therapeuten/IEP eine aggressive oder verführerische, misshandelnde oder zweideutige Funktion zu geben, die das Gott-Ich2 des Träumers nicht begrenzt).

Der rote Faden des gesamten psychogenerativen Weges steht im Zusammenhang mit der Identifizierung der Hindernisse – die zu einem Grossteil auf das Handeln des Gott-Ichs und sein magisches und allmächtiges Denken zurückzuführen sind – die sich der Fähigkeit zu denken und zu lieben nach dem genitalen Modell, metaphorisiert durch das IEP, entgegenstellt.

Auf diesen theoretischen Grundlagen basiert die hier vorgestellte psychotherapeutische Arbeit mit Kora. Kora ist 15 Jahre alt, drittes Kind einer nicht präsenten, strengen und eher gefühlslosen Mutter und eines distanzierten, unzuverlässigen und dem Alkohol zugewandten Vaters. Sie wuchs auf mit wenig Zuwendung und Dialog in einer isolierten Familie, die sich durch mangelnde Fürsorge und Schutz auszeichnete. Auch jetzt lebt Kora in tiefer Einsamkeit und versteckt sich hinter der Vorstellung, selbstständig und reif zu sein.

Die Psychotherapie beginnt, nachdem der sexuelle Missbrauch durch den aktuellen Ehemann der Mutter zur Anzeige kam: Es war Fidel (Freund, Liebespartner, Feind, in einem ständigen Hin und Her), der sie in diesem Prozess unterstützt hat; die Mutter hatte, als einzige Reaktion auf Koras Offenbarung, den Ehemann aufgefordert, dies nicht mehr zu machen. Der Mann wurde festgenommen und anschliessend zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt.

Besonders in den ersten Monaten zeigt Kora eine starke emotionale Distanz, eine Abstumpfung der Gefühle, das Auftauchen von Gedanken, die mit dem Missbrauch zusammenhängen, Momente der Dissoziation und der Loslösung von der Realität, eine zum Teil instabile Erinnerung und eine zumindest ambivalente Bindung. Auf struktureller Ebene wird die Funktionsweise des Geistes durch die Ausscheidung dominiert: Der Schmerz und das Leiden müssen meistens über den Körper und das Verhalten ausgeschieden werden. Der Zugang zur Mentalisierung und zu einem transformativen Denken ist schwierig; die Abwehrmechanismen sind archaisch (Abspaltung, projektive Identifikation, Verleugnung, Ausagieren, Abwertung/Idealisierung); die Ambivalenz bei der Objektbindung ist ausgeprägt (sie neigt dazu, das Objekt, an das sie sich bindet, abzuwerten, wenn sie sich bedrängt fühlt, während sie auf jede erdenkliche Art und Weise Nähe einfordert, sobald sie ein Verlassenwerden oder Distanz befürchtet). Kora scheint einen «halben Partner», eine Beziehung ohne Gegenseitigkeit zu suchen: Sie scheint von der Logik der Verzweiflung angetrieben zu sein (Green). Das Bedürfnis, das Kora antreibt, scheint der Schmerz zu sein: Sie sucht böse Objekte, die sie bestrafen, in einer kontinuierlichen Abwärtsspirale der Schuld und der Abwertung. In ihrer psychischen Welt kann Kora nicht wertgeschätzt und der Liebe würdig sein, da sie dies nicht verdient und nicht gut genug ist, um es zuzulassen. Die mentale Funktionsweise wird also durch einen posttraumatischen und dissoziativen Aufbau dominiert, mit vielen Besonderheiten, die typisch für die Funktionsweise von Borderline-Strukturen sind.

In einem solchen Rahmen liegen die leitenden therapeutischen Ziele darin, erneut die Fähigkeit zu aktivieren, Gedanken zu generieren und zu Ende zu denken (Bion), das IEP zu reparieren und Koras Fähigkeit zu verfeinern, es immer wieder zerstören und rekonstruieren zu können. Diese therapeutische Entwicklung kann durch die Analyse der Erzählung der drei Träume erahnt und gedeutet werden, die drei Schlüsselmomente und Wendemarken in der Beziehungs- und psychischen Welt Koras darzustellen scheinen. Die erste Therapiephase nimmt ungefähr die ersten zehn Arbeitswochen in Anspruch: Das Kennenlernen, der Aufbau eines therapeutischen Bündnisses und der Beginn des Prozesses. Die zweite Phase ist hingegen länger und dauert fast ein Jahr; das gleiche gilt für die dritte Phase.

Kora kommt in das Beratungszimmer und auf meine erste Frage antwortet sie: «Ich bin hier, weil der Ehemann meiner Mutter mich im Intimbereich angefasst hat.» Dieser Satz wird mit einer solchen Distanz und Kälte wiedergegeben, als wäre es der Titel eines Films, der zwar angesehen wurde, aber auch ohne Weiteres wieder vergessen werden kann. Die Abflachung der Welt der Gefühle und der mangelnde Zugriff auf die Affekte bleiben während des gesamten anfänglichen Therapiezeitraums unverändert. Der Rückgriff auf Abspaltung und Dissoziation sind offensichtlich und erheblichen Ausmasses.

Kora scheint die Gefühle, die mit der Erinnerung an den Missbrauch verbunden sind, aktiv verscheuchen zu wollen, indem sie es vermeidet, darüber zu sprechen und die damit verbundenen Emotionen zu spüren: In einer Sitzung sagt sie, sie habe bereits vergeben, denn «man kann nicht im Hass leben» und ihre Mutter hat ihr beigebracht, dass man alles verzeihen kann (bei dieser Gelegenheit kommt auch die Erzählung über den Grossvater mütterlicherseits zutage, der, nachdem er ein Mädchen vergewaltigt hat, um Entschuldigung gebeten hat, und dem anschliessend von der Mutter verziehen wurde). Diese scheinbare Vergebung scheint aber eher ein Versuch zu sein, den Missbrauch, sowohl den aktuellen als auch den generationenübergreifenden, auszuschliessen und auf diese Weise zu versuchen, die Vorfälle zu vergessen und nicht zu denken. Aus Koras Worten scheint eine Anstrengung durchzuscheinen, mit der sie versucht, aus den Ereignissen etwas zu machen, das nicht viel Gewicht hat und frei von Emotionen ist: Etwas, das man überwinden und in kurzer Zeit archivieren kann, sodass es vom Horizont des eigenen Bewusstseins eliminiert werden kann. Fast wie ein rationeller Versuch, die Emotionen vom Ereignis zu trennen und diesen Aspekt von ihrer Identität zu dissoziieren (den traumatisierten Teil und das Trauma zu eliminieren), indem aktiv versucht wird zu vergessen, anstatt bis in die Tiefe daran zu denken und es zu transformieren. Denn Kora neigt in dieser ersten Therapiephase sehr zum Ausagieren, zum physischen Ausscheiden, oft mit einem sexuellen Hintergrund. In diesen ersten Monaten erlebt Kora eine zwanghafte Sexualität, als etwas, das man in der Beziehung benutzen kann, und dass es ihr ermöglicht, der Logik der Verzweiflung zu folgen, und nicht als ein intimer und gefühlvoller Austausch, der dazu dient, Genuss zu geben und zu erhalten. Durch die Sexualität drückt sie ihr Bedürfnis nach Bestrafung und narzisstischer Abwertung aus: Einer ihrer inneren Teile sucht nach Schmerz, braucht das Leiden. Es gibt keinen Zugang zur Dimension des Vergnügens und des Austausches, die Beziehungen sind unvermeidlich prä-genital geprägt: Der andere ist das Objekt, oder Kora selbst ist das Objekt des anderen. Das Resultat ist immer der Schmerz und bestätigt den eigenen Unwert.

Teilweise scheint es so, als habe Kora keinen Schlüssel, um die anderen auf affektiver-, beziehungstechnischer und sexueller Ebene zu verstehen, also was zulässig ist und was nicht. Das Hauptziel des psychischen Aufbaus des Mädchens ist derzeit, zum Zwecke der Verteidigung, nichts zu spüren, keine Emotionen zu fühlen, sich nicht zu hinterfragen, keine Theorie des Geistes zu entwickeln.

Dieser erste Teil der Therapie ist gekennzeichnet durch kontinuierliche Verspätungen von Kora: Wir sind noch in der Anfangsphase, haben wenig Zugriff auf den transformativen Gedanken, daher sind es ihre Handlungen, die oft stattdessen «sprechen». In den ersten drei Monaten lässt Kora niemals eine Sitzung aus, kommt aber fast nie pünktlich zu den Sitzungen und manchmal sogar bis zu 45 Minuten nach der vereinbarten Zeit. Aus diesem Grund setze ich die Treffen mit Kora nach den ersten Sitzungen in einer Zeit fest, die solche enormen Verzögerungen ermöglichen, ohne dass ihr Therapiezeit verloren geht. Im Nachhinein scheint diese erste Phase die Phase der symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Säugling abzubilden und zu wiederholen, der typischen Illusion dieses Augenblicks (Winnicott): Eine ausreichend gute Mutter ist immer da, bedingungslos, und bietet dem Baby eine fast vollständige Anwesenheit. Anschliessend begleite ich Kora aus ihrem Bereich der symbiotischen Illusion heraus, zu einem Zeitpunkt, an dem ich fühle, dass sie die Frustration und die Begrenzung erdulden kann: Ich vereinbare eine Sitzung sofort danach, und sofort vor einer Sitzung (und mache dabei sehr deutlich, dass eine Verspätung unvermeidlich auch die Therapiezeit der Sitzung verkürzen würde). Zu jenem Treffen kommt Kora sogar zu früh: der Bedarf nach Kontrolle und Ausdruck eines gewissen Anteils Aggressivität (verursacht durch die Zerstörung der symbiotischen Illusion). Kora wird das Mädchen, das vor ihr dran ist, aus der Praxis gehen sehen. Sie wird mich ihre Enttäuschung und ihr Gefühl des Ausgeschlossenseins spüren lassen und mir gegenübertragend das Gefühl geben, dass ich an etwas Schuld trage. In dieser Lage beginne ich mit der theatralischen Interpretation des IEP: Die Mutter kann nicht gänzlich und jahrelang für die Tochter anwesend sein, es gibt eine gesunde Abwesenheit, die der Anwesenheit des Vaters geschuldet ist, dem die Mutter Aufmerksamkeit schenken können muss. Die notwendige Ausgrenzung der Tochter aus dem Verhältnis zwischen Mutter und Vater (dem trennenden Dritten) ermöglicht es, den Weg zur Beziehung zu ebnen. Seitdem gab es keine Verspätungen mehr und in der darauffolgenden Woche wird Kora mir mitteilen, dass sie immer zehn Minuten vor der vereinbarten Uhrzeit kommen wird: «Wenn du mal früher Zeit hast, dann bin ich schon hier.« Und in der gleichen Sitzung erzählt Kora mir von ihrem ersten Traum: «Ich sass am Tisch, mit Fidel und vielen anderen Leuten, an die ich mich nicht erinnere. Ich konnte nicht atmen. Ich muss aufstehen und rausgehen, weg von diesem Tisch. Fidel folgt mir und umarmt mich. Ich beruhige mich und atme.»

Diese erste Erzählung des Traums kennzeichnet zwei Ereignisse von besonderer Bedeutung. Das erste ist die Geste des Vertrauens und des Bündnisses zwischen mir und Kora: Denn das Mädchen gibt mir dadurch, dass es mir ihren Traum erzählt, Zugang zu seiner inneren Welt, zu seiner Privatsphäre, und zeigt mir, dass ein Teil von ihm bereit ist, sich auf diesem Weg von mir begleiten zu lassen.

Das andere Ereignis, auf das dieser Traum hinweist, ist das Fehlen von Luft, was wir auch als Bedürfnis und Bewusstsein um die Frustration deuten können, um den Gedanken aktivieren zu können. Nach Bion gibt es keinen Gedanken ohne Frustration: Nur gegenüber einem Mangel muss das Subjekt seinen Denkapparat in Gang setzen, um Gedanken zu denken und um ihr auf diese Art und Weise auf angemessene Weise zu begegnen. Ein klassisches Beispiel für die Veranschaulichung dieser Theorie ist eben die Luft: Solange es Sauerstoff gibt und ein stabiler und regelmässiger Zugriff darauf möglich ist, verschwendet man keinen Gedanken an Sauerstoff. Sobald man hingegen aufgrund eines Sauerstoffmangels nicht mehr atmen kann, kann man nur noch genau daran denken.

Mit dieser ersten Erzählung eines Traums scheint Kora zur Therapeutin sowohl über ihr Bedürfnis zu sprechen, dass jemand ihr Platz zum Atmen gibt, als auch von jemandem, der ihr den Atem raubt: metaphorisch gesehen also davon, einen Verbündeten zu finden, der ihr hilft, den Gedanken zu aktivieren, um anzufangen, nicht immer nur auf das Ausscheiden, auf das Ausagieren, auf die Abspaltung zurückgreifen zu müssen. Und dort, wo es eine Abspaltung gibt, ist die Anwesenheit von zwei Elementen, die sich gegenseitig Platz zum Atmen geben, die neue Luft erschaffen, unverzichtbar.

Ebenfalls bemerkenswert ist die Unmöglichkeit, im Traum von Kora einen elterlichen Platz zu finden: Denn im Traum kommen nur nicht identifizierte Personen vor (die Verwirrung und Luftmangel verursachen) und die Figur von Fidel (der als Freund des Mädchens nicht von der Therapeutin interpretiert werden kann). Dieser erste Traum scheint zu unterstreichen, dass der Luftmangel dem Fehlen eines stabilen und konstruierten IEP entsprechen kann; und ohne IEP ist es nicht möglich, zu atmen/zu denken.

Die Empfehlung, die Kora erhält, ist also teleologischer Art. Von diesem Moment an soll sie nach vorn schauen, beobachten, wie sich die Träume und die inneren Repräsentanzen entwickeln, wie und wann der Therapeut/IEP erscheint und seine kontinuierliche Konstruktion und Dekonstruktion beginnt.

Anfänglich, auch in der zweiten Phase, steht die innere Welt Koras weiterhin unter dem Joch der erlebten traumatischen Erfahrung: Das Mädchen behauptet, in Bezug auf den begonnenen Prozess, auf die Erinnerungen an den Missbrauch, auf die in der Therapie erneut erzählten und gehörten Ereignisse, nichts zu empfinden. Nach Verkündigung des Urteils informiert mich Kora, dass sie überhaupt nicht an der Angelegenheit interessiert ist, dass sie in diesem Zusammenhang nichts empfindet und dass sie davon nichts mehr wissen will.

Sie erzählt mir jedoch, sehr müde und ausgelaugt zu sein, schlecht zu schlafen und hin und wieder plötzlich grundlos und untröstlich weinen zu müssen. Die Abspaltung der Effekte als Verteidigung vor der traumatischen Erinnerung scheint vorherrschend zu sein. Auch die Tendenz zur Ausscheidung zum Zwecke der Verteidigung ist dominierend: Es folgen zahlreiche Erzählungen von Feiern, Alkoholmissbrauch, Rennen bis zur Atemlosigkeit, um nicht denken zu müssen. Die psychische Funktionsweise wird vom Ausscheiden dominiert: Das Erleben von Depression und Leere kann nicht angesprochen und angedacht werden. Parallel dazu ist auch die Sexualität weiterhin zwanghaft, ohne affektive Bedeutung und ohne Vergnügen, sie wird defensiv erlebt, wie etwas ganz Banales und Oberflächliches. Kora erzählt, dass sie «machen lässt», dass sie nicht in der Lage ist, Grenzen zu setzen oder sich selbst zu begrenzen, dass sie die Sachen einfach so macht, «ich denke erst nachher daran, ob ich wollte oder nicht». Die Begierde erscheint nicht definiert und konstruiert, sie erscheint instabil und steht oft im Dienste eines masochistischen Bedürfnisses nach Bestrafung. Kora stellt sich in den Dienst des anderen, wie ein Objekt der Begierde des anderen, ohne daran zu denken, dass der sexuelle und Beziehungsbereich auch für sie ein Vergnügen sein könnte und müsste (es gibt keine Perspektive des Austauschs).

Kora kann die Leere – dieser Zustand, der unvermeidbar ist, damit man einen Wunsch spüren und konstruieren kann (Bion) – nicht dulden und aushalten: Sie weiss nicht, was sie will und sie weiss nicht, was ihr gefällt, sie unterliegt passiv den Bedürfnissen des anderen, lässt sich von ihm definieren («ich habe mich gezwungen, mit ihm Sex zu haben, auch wenn es mich angeekelt hat») und kann sich nur im Wunsch des anderen spiegeln.

Nach und nach und mit Fortschreiten der Sitzungen beginnt Kora dennoch langsam, von ihrer Position abzurücken und es taucht zum ersten Mal ein Gefühl auf, das zu einem Schlüssel von grundlegender Bedeutung zu ihrer Gefühlswelt und für den Beginn einer Veränderung wird: der Ekel. Der Ekel wird das Erlebnis, das Ordnung in die psychische Welt bringen wird: Er kennzeichnet eine Vertiefung des Gedankens, das Aufkommen eines emotionalen Zeichens, das den Entwurf eines Wunsches klären kann (was gefällt und was nicht) und der es ihr ermöglichen kann, sich zu regulieren.

Alles beginnt nach einem besonders intensiven Wochenende, an dem sie sich besonders intensiv ausagiert hat: Nachdem sie in der Sitzung von den Ereignissen erzählt hat und nach der darauffolgenden therapeutischen Neu-Erzählung der Ereignisse, steht Kora nach Ablauf der Zeit auf und sagt: «Ich ekel mich an, es war ekelhaft.» Ab diesem Moment kommt der Ekel als ausgewählte Tatsache und Regulator in ihre innere Welt, bis er ihr erlaubt, den Missbrauch mit einer neuen Bedeutung zu belegen (aprés-coup; Green) und Ordnung in die Emotionen, die Gedanken und die Verhaltensweisen zu bringen. Kora erzählt, eine ganze Nacht durchgeweint zu haben: Am Anfang, wie üblich, kommen die Tränen ohne offensichtlichen Grund und völlig abgetrennt von jeglichem Affekt; anschliessend kommen während des Weinens Erinnerungen hoch: Zum ersten Mal erzeugen sie bei ihr ein Gefühl von «Brechreiz und Ekel», eine tiefe Abscheu gegenüber allem, was ihr angetan wurde und was sie durchgemacht hat. Das Weinen wird anschliessend traurig, schmerzhaft und wütend: Das Leiden scheint auch in der Sitzung durch, während sie erzählt.

Der erlittene Missbrauch, die Passivität und das zwanghafte Ausagieren beginnen zu etwas Ichdystonem zu werden, zu Erfahrungen, die nicht zu ihr gehören: Kora benutzt den Ekel als Organisator der Erfahrung, in einem Akt der Reife setzt sie zum ersten Mal Grenzen.

Die Kraft und die Bedeutung dieses Schritts werden durch den zweiten erzählten Traum noch verstärkt: «Ich bin zu Hause bei Fidel, seine Mutter, sein Vater und eine Frau, die ich nicht kenne, sind auch da. Ich gehe mit Fidel auf sein Zimmer: Erst sind wir nur Freunde, wir lachen und albern herum, dann aber küsse ich ihn und er zieht sich zurück. Wir werden wieder Freunde, wir lachen und albern herum, dann aber küsst er mich und es endet damit, dass wir Sex haben. Die unbekannte Frau kommt ins Zimmer und raucht einen Joint mit uns. Die Mama von Fidel kommt herein und beschimpft mich und schreiht mich an, sie hasst mich wirklich. Wir gehen alle aus dem Haus, weil ich nach Hause muss, es regnet stark, wir gehen alle zum Bahnhof und verabschieden uns. Es ist ein wirklicher Abschied.»

Denn in diesem Traum erscheint die Figur der Mutter: Ohne sich von der Traumlogik täuschen zu lassen, die die mütterliche Rolle negativ darstellen möchte, ist es von grundlegender Bedeutung festzustellen, wie diese Elternfigur (abgesehen davon, dass sie präsent ist) die Szene betritt, um eine Grenze zu setzen, um eine täuschende und nicht generative Befriedigung zu unterbrechen. Die Erzählung dieses Traums markiert den Beginn einer Internalisierung und einer möglichen Reparatur des IEP: noch fragil und angebunden (nur an einen Elternteil), aber dennoch endlich präsent und Grenzen setzend. Die Mutter aus dem Traum tritt als Antagonistin des autoerotischen Gefüges auf, sie steht der masturbierenden Vereinigung mit dem Traum-Fidel ablehnend und feindlich gegenüber: Dies ist positiv, gerade weil der autoerotische Aufbau die realen Beziehungen und die Suche nach der Befriedigung durch eine Beziehung beeinflussen kann. In diesem Traum kann man den Entwurf einer Grenze gegen die Autoerotik feststellen und gleichzeitig beginnt in dem realen Leben eine kongruente Emotion zu erscheinen (der Ekel für den autoerotischen Aufbau in der Realität, für eine Sexualität die ausagiert wird, ohne eine echte Objektbeziehung des Austauschs zu suchen).

Das Einsetzen einer Internalisierung der Figur des Therapeuten/IEP (zusammen mit dem Ekel als emotionales Zeichen) initiiert auch die Klärung und Begrenzung der eher affektiven-relationalen Aspekte: Die Beziehungen von Kora, die auf einer mangelnden Gegenseitigkeit und auf Konfusion zwischen erotischem und elterlichem Aufbau basieren, beginnen ichdyston zu werden und unter die Ägide des Missfallens gestellt zu werden. In diesem Sinne kann die Verabschiedung vom Haus Fidels und die Rückkehr zum eigenen Haus nach der von der Mutter im Traum gesetzten Grenze als ein wichtiger Akt der Reife angesehen werden, der auf der Traumebene unterstreicht, was auf realer Ebene geschieht. In der Erzählung ist Fidel der Repräsentant der perversen Ordnung, d.h. einer Ordnung, in der kein Unterschied zwischen Geschlechtern und Generationen gemacht wird, also ohne jegliche Art von Grenze. Fidel ist das Symbol des Gott-Ichs, der Autogeneration, des absoluten Narzissmus: Die innere Mutter, die sie schlecht behandelt, ist der Teil von Kora, der beginnt, Ekel zu empfinden, der mit einer Grenze interveniert, der Regeln setzt und das Verhältnis mit der Wirklichkeit erhält.

Die Fortschritte von Kora, zwischen Progression und Regression, halten an; genauso wie ihr Dilemma zwischen dem narzisstischen autoerotischen Aufbau und dem genitalen Verhältnis mit der Realität.

Im Hintergrund schwebt immer die Beziehung zu Fidel: Die beiden durchlaufen zusammen Momente der Wut und heftige Streitereien, die sich mit Versöhnung abwechseln. Endlich kann es sich Kora erlauben, negative Gefühle gegenüber Fidel zu spüren und zu empfinden: Sie sagt, sie hasst ihn und dass sie ihn dafür, dass er sie betrogen hat, schlagen möchte. Nach der Wut kommt dann die Traurigkeit: Kora beschreibt, dass sie lange weint und eine tiefe Melancholie spürt, was jedoch auch einen positiven Aspekt hat, da das Erleiden von Schmerz letztendlich auch bedeutet, an Schmerz denken zu können. In diesem Rahmen kann festgestellt werden, dass sich eine stärkere Internalisierung der kleinianischen depressiven Position abzeichnet, die es ermöglicht, das Objekt nicht mehr als gänzlich gut oder böse zu erleben, sondern als ambivalentes Objekt, das sowohl gut als auch schlecht ist. Neben dem Ekel taucht so der Schmerz als Signal und als schützendes Gefühl auf, beide Empfindungen ermöglichen es, Situationen zu vermeiden, die diese Empfindungen hervorrufen, wenn sie erlebt und antizipiert werden.

Koras Sexualität beginnt nach und nach zu etwas anderem zu werden, das nicht mehr banal und von wenig Gewicht ist: Zum ersten Mal schafft Kora es, während des Sex Vergnügen zu empfinden und spürt, dass diese zusammen mit Fidel erlebte Dimension etwas Positives und Besonderes ist: «Vorher war Sex nur eine Methode, um nicht an die Probleme zu denken.»

Die Abnahme des Ausagierens wird immer deutlicher, Kora scheint immer mehr in der Lage zu sein, erst einen Gedanken zu entwickeln und dann zu handeln. Das Mädchen findet in meiner konkreten Präsenz eine Hilfe: Kora beginnt, mir Nachrichten zu schicken oder mich in Notfallsituationen oder wenn sie Kummer hat um Telefonate zu bitten. Anstatt zu agieren, Alkohol zu missbrauchen oder sich sexuell abzulenken, sucht sie mich, und ich lasse mich finden. Durch diesen telefonischen Austausch ist es ihr möglich, ihre Angst sofort einzudämmen, sich der Notwendigkeit eines sofortigen Ausscheidens zu stellen und die umgehend folgende Sitzung abzuwarten, ohne sich selbstverletzend zu verhalten. Auf Grundlage dieser therapeutischen Entscheidung bestätigt sich die Absicht, Kora weiterhin durch den Prozess der Internalisierung einer anderen Vorstellung von Mutter zu führen: fürsorglich und schützend, präsent und als konkrete Unterstützung, da sie ein äusseres Objekt ist. Die Therapeutin anzutreffen und mit ihr sprechen zu können, ermöglicht es ihr, eine präsente mütterliche Repräsentantin zu erleben, die an sie und für sie denkt. Ihr zu helfen, das Kabel zum Aufladen des Handys zu finden und dieses Instrument zu ersetzen, wenn es kaputt ist; ihr einen Frauenarzt zu empfehlen und ihr die Verwendung der Pille zu erklären; ihren Anwalt anzurufen, damit dieser mich informiert; das alles sind Akte des Sprechens. Sie fördern eine Identifizierung mit meinem fürsorglichen mütterlichen Teil, sodass sie nach und nach diese schützende und ausreichend gute mütterliche Figur verinnerlichen kann; also eine nicht idealisierte und nicht perfekte mütterliche Figur, die die Merkmale des gesamten Objekts (das sowohl gute als auch schlechte Teile hat) in sich vereint. Diese ambivalente mütterliche Figur, sowohl gut als auch schlecht, kann, wie zuvor beschrieben, dank der wiedergefundenen Möglichkeit Koras, auf die depressive Position zugreifen zu können, verinnerlicht werden. Denn es kommt eine tiefsitzende Wut gegenüber der reellen Mutter zum Vorschein, die vorher niemals gespürt und ausgedrückt wurde.

Während den Sitzungen beginnt Kora, einen tiefsitzenden Groll gegenüber den Eltern zu erleben und in Worte zu fassen (insbesondere gegenüber der Figur der Mutter): «Ich hasse sie, weil das, was passiert ist, alles ihre Schuld ist», damit bezieht sie sich sowohl auf den Missbrauch durch den Ehemann als auch auf einen Vorfall, als sie acht Jahre alt war. Kora erzählt, dass es ihr schwerfällt, mit der Mutter zu sprechen, dass sie von ihr sehr genervt ist und dass sie verstanden hat, dass sie nie schützend und fürsorglich war. Dies ist möglich, weil Kora eine innere Repräsentanz einer anderen mütterlichen Figur konstruiert, die sie mit der äusseren Mutter vergleichen kann. Das Mädchen ist dabei, ein fürsorgliches inneres Objekt zu konstruieren, das sie mit dem äusseren Objekt vergleichen kann, gegenüber dem sie Hass empfindet, weil sie spürt, dass es nicht dem Modell entspricht, das langsam in ihrer inneren Welt entsteht. Darüber hinaus ermöglicht ihr diese Identifizierung mit dem schützenden und fürsorglichen Objekt, anzufangen, zu fühlen, dass auch sie ein Recht darauf hat, auf geordnete und beständige Weise geliebt zu werden. Von extremer Bedeutung wird es daher sein, es zu schaffen, keine Vorstellung einer perfekten mütterlichen Figur anzubieten, die im Vergleich mit der realen äusseren Mutter (die als solche nicht perfekt und enttäuschend ist) immer Gewinnerin sein wird, wodurch die reale Mutter ein völlig abgewertetes Objekt wäre. Nur auf diese Art und Weise kann Kora sich auf eine vollständige und ganze Elternfigur stützen, sowohl gut als auch böse, die sie lieben oder hassen kann, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen; ohne in ein Muster zu verfallen, bei dem eine Seite idealisiert und die andere abgewertet wird.

Auch der dritte erzählte Traum enthält Indizien für diese innere Konstruktion: «Ich bin mit meiner Mutter zu Hause und bringe das Kind von Gianni zur Welt (auch wenn ich mit Fidel zusammen bin). Ich leide nicht, denn sie haben mir eine Spritze gegeben, meine Mutter ist an meiner Seite und ich kann unbeschwert niederkommen. Sobald das Kind auf der Welt ist, verliebe ich mich in es: Es ist wunderschön, ich bin sofort mit ihm verbunden, ich bin sehr glücklich. Als ich aufwache, überkommt mich die Verzweiflung, denn ich verstehe, dass es dieses wunderbare Kind nicht gibt, ich habe es nicht wirklich bekommen.»

Das Neugeborene kann einen neuen Teil der Träumerin darstellen: Ein neugeborener Teil, der durch die Erzählung an die Therapeutin herangetragen wird, die als Repräsentantin des IEP aufgefordert wird, sich zu kümmern und sich um das neue Kind/den neuen Wunsch von Kora zu sorgen. Das Kind, das im Traum zur Welt kommt, könnte also einen neuen Teil darstellen, der wachsen und umsorgt sein muss: Ausserdem kommt im Traum eine liebevolle und unterstützende mütterliche Figur zum Vorschein, die einen Teil von ihr darzustellen scheint und einen anderen umsorgt (der Entwurf einer Konstruktion und Internalisierung des IEP als innerer Teil, der auch diese Funktion hat). Dieser innere Akt hat eine entsprechende Parallele auch in der Aussenwelt: Denn Kora problematisiert ihren Wunsch, andere Trainer haben zu wollen. Denn das aktuelle Trainerpaar kümmert sich nicht, wie es sollte, und Kora spürt, dass sie höheren Nutzen und Unterstützung von Trainern bekommen könnte, die besser in der Lage sind, sie zu unterstützen und anzuspornen. Sie möchte jemanden, der sich auf sportlicher Ebene um sie kümmert und um sie sorgt, und schafft es, nachdem sie lange Zeit in der Therapie darüber nachgedacht hat) mit den direkt Betroffenen zu reden, und zeigt damit, dass sie wirklich begonnen hat, sich aktiv selbst zu schützen.

Letztlich ist die grosse Enttäuschung beim Aufwachen hervorzuheben: Kora erzählt, dass sie so grosse Liebe für das Neugeborene im Traum empfunden hat, dass die Tatsache, dass sie es in der Realität nicht in ihren Armen gefunden hat, sie zerstört hat. Einen ganzen Tag lang kann sie nur an den Kinderwunsch denken, sie betrachtet Fotos von Kindern, denkt kontinuierlich wieder an die im Traum empfundenen Gefühle. Das zugrunde liegende Dilemma besteht zwischen dem Wunsch, auf eine narzisstische Art und Weise (die völlig befriedigend ist, da sie illusorisch und grenzenlos ist) in ihrer inneren Welt zu leben, und dem Beginn, in der Realität tätig zu werden, mit den Enttäuschungen, die das zwangsläufig mit sich bringen wird. Jetzt, da der Apparat zum Denken von Gedanken entsperrt zu sein scheint, ist die grundlegende Thematik, das Gleichgewicht zwischen der narzisstischen Tendenz der Selbstbefriedigung und sich zu arrangieren und das Aufeinandertreffen mit der Realität und dem Anderen, dieser Quelle möglicher Enttäuschungen (denn in der Realität gibt es keine idealen Objekte). Eine erste tendenziell positive Seite ist die Tatsache, dass die Obsession, ein Kind haben zu wollen, nach wenigen Stunden verschwindet: Kora schafft es, allein zu verstehen, dass Wunsch und Realität zwei unterschiedliche Sachen sind, ohne zur Handlung zu schreiten.

Nach einer dreijährigen Psychotherapie und tausenden von Gedanken, die ich mir über unseren Weg gemacht habe, ist der Moment gekommen, auch die Meinung von Kora selbst zu hören. In einer der Sitzungen wird das Mädchen gebeten, die Situation zu bewerten: Welche Bedeutung hat die Therapie für sie, welche Erinnerungen hat sie im Zusammenhang damit, was sind die herausragenden Momente und was erwartet sie für die Zukunft?

Die wichtigste Wende lag für Kora darin, zu verstehen, dass sie in Passivität lebte: «Du hast mich aufgeweckt, auch in Bezug auf Jungs, mit allem.» Bei unserem ersten Treffen spürte Kora gar nichts, sie hat keine Emotionen und hat nicht auf ihre innere Welt gehört: «Ich konnte an gar nichts denken; ich hab so getan, in jeglicher Hinsicht und bei allem.» Jetzt weiss sie, dass sie eine Gefühlswelt hat, sie hört darauf und sie spürt sich und sie versucht, so weit wie möglich in Einklang mit ihr zu leben, sodass sie sich auch authentischer fühlen kann.

Sie ist zufrieden mit dem, was bisher erreicht wurde, doch sie spürt und weiss, dass sie den therapeutischen Prozess noch benötigt: Sie sagt, dass sie es schaffen möchte, dass es ihr noch besser geht, und dass sie eine gewisse Stabilität erreicht.

Der Satz, der auf die Internalisierung der Therapeutin/IEP hinweist, kommt am Ende des Treffens: «Ich habe verstanden, dass Psychotherapie nicht bedeutet, Antworten zu erhalten, sondern die Fragen zu vertiefen.»

Dieser Satz stellt meine Gedanken und meine therapeutischen Ziele dar, ohne dass ich dies jemals offen ausgesprochen habe: Die Gedanken bis zum Ende zu denken, immer weiter in die Tiefe zu gehen, bedeutet, sich weiterhin Fragen zu stellen, um immer neue Antworten zu finden3. In diesem Sinne scheint Kora zu bestätigen, verstanden zu haben, dass die Bedeutung der Therapie darin liegt, generativ zu werden, neue Inhalte, Gedanken, Verbindungen zu generieren, in einem kontinuierlichen Spannungsfeld zwischen Chaos und Ordnung.

Es scheint, als ob Kora sich mit meiner Figur als Repräsentantin des IEP identifizieren und diese anschliessend verinnerlichen konnte: ein repariertes Paar, das darauf vorbereitet ist, sie in ihrem generativen Denken zu unterstützen.

Literatur

Blanchot, M. (1969). L’entretien infini. Parigi: Gallimard.

Green, A. (1991 [1974]). Psicoanalisi degli stati limite. La follia privata. Milano: R.Cortina.

Marcoli, F. (1997). Il Pensiero Affettivo. Como: RED.

Marcoli, F. (2005). Brutto è il bello, bello è il brutto. Lugano: Edizioni IRG.

Marcoli, F. & Branca, S. (2014). Tre storie: pregenitalità e cultura. Bergamo: Sestante Edizioni.

Viederman, S. (1982). La construction de l’espace analytique. Parigi: Gallimard.

I will love you forever, even if I have never loved you

Abstract: The text describes the implementation of an ongoing psychodynamic-psychogenic psychotherapy started in October 2018 with a now 18-year-old girl (here called Kora) who was sexually abused by her mother’s current husband. Kora begins her therapy in a post-traumatic state. The entire first part of the therapy revolves around restoring her access to the affective and emotional world: she has no connection to feelings and affects, she is a young woman for whom acting out is the way to eliminate, who acts without thinking. In the course of the sessions she manages to access her affective world and to bring out memories and sensations connected to the abuse, to her past, and to her current life. Her thinking ability emerges on the psychotherapeutic stage and the work revolves around integrating this reactivation. This text presents Kora’s therapeutic trajectory, divided by three key moments of essential importance, underlined by the description of three dreams; read and interpreted in view of a particular elaboration of Bion’s psychoanalytic model, called Generative Psychology (Marcoli, 1997). In this model, the psychotherapist puts himself in the position of a symbolic representative of the inner parents: this psychic function aims at caring for the mind – through limitation and protection. The incipient process of internalization of the therapeutic figure as a representative of the parents allows Kora to access generative thinking by asking herself questions that she can pursue in-depth, and by activating herself in her daily life to achieve results and pursue the fulfillment of her desires.

Keywords: generative psychology, inner parents, dream interpretation, adolescent psychotherapy, sexual abuse, dynamic psychotherapy

Die Autorin

Elisa Tommasin ist Psychologin und Psychotherapeutin. Nach ihrem Hochschulabschluss in klinischer und dynamischer Psychologie an der Universität Padua hat sie sich am Forschungsinstitut Istituto Ricerche di Gruppo Lugano auf psychodynamische Psychotherapie spezialisiert. Nach vielen Arbeitsjahren bei den Kantonsdiensten für Minderjährige (ambulant und Tagesgruppen) übt sie ihren Beruf derzeit in der Praxis Clinica Psiche in Lugano aus und kümmert sich dabei um alle Altersgruppen. Zurzeit arbeitet sie als Vertreterin der Studierenden und ehemaligen Studierenden mit dem Direktorium des Istituto Ricerche di Gruppo zusammen.

Kontakt

E-Mail: elisatommasin@hotmail.it

Anmerkungen

1 Wo generell von Psychotherapie die Rede ist, wird das generische Maskulinum verwendet. Wo das Geschlecht eindeutig ist (Falldarstellung), wird die weibliche Form verwendet.

2 Der Antagonist des IEP: der allmächtige und narzisstische Kern der Persönlichkeit. Es ist die Tendenz, mit sich selbst ein Paar zu bilden und dabei den Ausschluss und die Realität zu umgehen.

3 «La réponse est le malheur de la question» (Blanchot, 1969 [dt.: «Die Antwort ist das Unglück der Frage»]).