Raile, Paolo & Rieken, Bernd (2021). Eco Anxiety – die Angst vor dem Klimawandel. Psychotherapiewissenschaftliche und ethnologische Zugänge

Münster: Waxmann ISBN: 978-3-8309-4372-3 228 S., 29.90 EUR, 34 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (2) 2021 90–91

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CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-2-90

Im Unterschied zur anglofonen Literatur gibt es im deutschsprachigen Raum noch wenig Publikationen zur Angst vor dem Klimawandel. Der Begriff der «eco-anxiety» etabliert sich im englischsprachigen Raum allmählich, lässt sich allerdings schlecht auf Deutsch übersetzen. Die Literatur zum Thema Klimawandel ist zwar vielfältig, doch werden Ängste im Zusammenhang mit dem Klimawandel nur selten thematisiert. Das Buch von Paolo Raile und Bern Rieken schliesst hier eine wichtige Lücke. Es erschien als Band 32 in der Reihe «Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur».

Im ersten Kapitel sind Ausführungen zur Geschichte des Klimawandels seit der Entstehung der Erde zu lesen. Die Autoren schildern die verschiedenen Wärme- und Kältephasen der Erdgeschichte auch aus kultureller, ethnologischer und sozialgeschichtlicher Perspektive. Die Erdbevölkerung war schon immer klimatischen Wandlungen ausgesetzt, neu – und wissenschaftlich nachgewiesen – ist am aktuellen Klimawandel aber, dass er nicht einfach ein Naturereignis ist, sondern deutlich von Menschen mitverursacht wurde und wird, also zu einem grossen Teil anthropogen ist.

Das zweite Kapitel fokussiert auf die Gegenwart des Klimawandels und beschreibt die verschiedenen Arten, wie der Klimawandel bzw. dessen anthropogener Anteil geleugnet wird. Es wird aufgezeigt, mit was für Mitteln der «Gegeninformation» Leugnungen verbreitet werden und was für eine Rolle (soziale) Medien dabei spielen. Es werden Argumentationen nachgezeichnet, die wissenschaftliche Erkenntnisse diskreditieren, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sichtbar werden. Zur Beeinflussung von Bevölkerung und politischen Entscheidungsträger*innen werden Fake-News-Kampagnen über soziale Medien verbreitet. Vor allem rechtspopulistische Politiker*innen bezweifeln oder leugnen den wissenschaftlichen Konsens und stellen sich gegen etwaige international koordinierte Massnahmen für den Klimaschutz. Zum Schluss dieses Kapitels wird eine ethische Perspektive zum Umgang mit dem Klimawandel erläutert, die etwa auch von der bekannten Psychoanalytikerin Donna Orange vertreten wird.

Im dritten Kapitel, dem Hauptteil des Buches, präsentieren die Autoren schließlich empirische Studien zur eco-anxiety im Alltag.

An der Sigmund Freud PrivatUniversität (SFU) in Wien führten die Autoren eine quantitative Erhebung durch zum Thema «Ängste vor dem Klimawandel und dessen Folgen». Ein eigens entwickelter Fragebogen wurde einerseits in der Ambulanz der SFU in Therapien und Beratungen eingesetzt, andererseits aber auch online aufgeschaltet, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Er enthielt in einem Teil Items zu Information, Medien und Klimaschutz. Ein zweiter Teil enthielt Items zum Klimawandel als Bedrohung und ein dritter stellte Fragen zu Ängsten. Zusammenfassend gaben von 492 Befragten 289 Personen (58,7 %) an, unter klimawandelbezogenen Ängsten zu leiden.

In einer zweiten Untersuchung wurden mit 12 Personen qualitative Interviews durchgeführt. Die Forschungsfragen waren: Wie sehen die Befragten den anthropogenen Anteil des Klimawandels? Worin unterscheiden sich die Perspektiven von Personen mit verschiedenen Hintergründen (Stadt/Land, Experte/Laie, jung/alt, Mann/Frau etc.)? Welche Gefühle werden dem Klimawandel entgegengebracht, und welche davon sind in der Gegenübertragung wahrnehmbar? In welcher Form wird Besorgnis oder Angst mitgeteilt, und sind sie bei der Befragung spürbar? Die Ergebnisse werden in Form von Ausschnitten aus den jeweiligen Interviews anschaulich präsentiert. Es zeigten sich ganz unterschiedliche Zugänge zu den jeweiligen Themen, von Leugnung bis zum Ausdruck von starken Ängsten über die Folgen des Klimawandels und die Zukunft des Lebens auf der Erde.

In einer dritten Studie wurden social media-Gruppen und deren Funktion auf Facebook untersucht. Die Autoren analysierten den Klimadiskurs in verschiedenen solcher Gruppen. Jene, die sich als «prepper» (Vorbereiter) bezeichnen, haben als Thema: Sei auf alles vorbereitet. Darin werden Ausstiegsstrategien diskutiert, Änderungen in der Lebensweise bis hin zu esoterischen Themen. Das Thema des Klimawandels berührt auch das Thema des Todes: «Psychotherapeut*innen konzentrieren sich in der Behandlung ihrer Patient*innen oftmals auf die konkrete Manifestation der Angst sowie die Art, wie die Personen jeweils mit ihr umgehen. [Irvin D.] Yalom plädiert im Gegensatz dazu dafür, die Angst vor dem Tod und den Tod selbst zu thematisieren, sowie etwaige Auslöser, beispielsweise traumatische Ereignisse» (S. 144). Andere dieser Facebook-Gruppen sind solche, die als eigentliche Selbsthilfegruppen (Supportgruppen) dem Austausch und der Unterstützung dienen. Und natürlich gibt es Gruppen, die Beiträge enthalten zur Leugnung des Klimawandels. Entsprechend gibt es auch keine Angst vor den Folgen der Klimakrise. Allerdings lässt sich tiefenpsychologisch vermuten, dass im Leugnen des Sachverhalts eben auch eigene Ängste abgewehrt und geleugnet werden. Wieder andere Gruppen rufen zum Aktivismus auf. In ihnen werden Möglichkeiten gesucht, aktiv etwas gegen den Klimawandel zu tun. Angst wirkt hier als auslösende Emotion und starker Handlungsmotivator: «Niklas Luhmann schreibt, ‹dass soziale Bewegungen selbstreferenzielle Systeme sind, die mit hoher Widerspruchs- und Konfliktbereitschaft Funktionen im Immunsystem der Gesellschaft übernehmen können. Soziale Bewegungen sind demnach eine gesellschaftliche Kontrollinstanz» (S. 179).

In einem abschliessenden Kapitel formulieren die Autoren Empfehlungen für Betroffene, Angehörige und Menschen in helfenden Berufen. Sie empfehlen, eco-anxiety nicht einfach als neue Diagnose zu sehen, die zu einer Psychotherapie führen soll, sondern als angebrachte Reaktion auf den Klimawandel zu erachten. Als wirkungsvolle Massnahmen erwähnen sie etwa, über die Angst mit geeigneten Gesprächspartner*innen zu reden, um zu sehen, dass man nicht allein ist mit solchen Ängsten; ebenso aktiv zu sein in Sachen Klimaschutz im eigenen Leben, Negativmeldungen in Medien und sozialen Netzwerken zu meiden und stattdessen positive Nachrichten aktiv wahrzunehmen sowie die eigene Naturverbundenheit zu erweitern.

Die Autoren betrachten es als besonders bedeutsam, nicht nur dem Klimawandel und seinen Folgen, sondern auch dem Phänomen eco-anxiety mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Dieser Sicht schliesse ich mich an. Ich habe das Buch gewinnbringend und wissenserweiternd gelesen und kann es gern zur Lektüre empfehlen. Es erschien vor den aktuellen Klimakatastrophen dieses Sommers, die die eco-anxiety in der Bevölkerung vergrössert haben dürften und da und dort auch Thema in Psychotherapien sein oder werden könnten.

Peter Schulthess