Anderson, Inga & Edinger, Sebastian (Hrsg.). (2021). Psychotherapie zwischen Klinik und Kulturkritik. Reflexionen einer Kultur des Therapeutischen

Gießen: Psychosozial-Verlag ISBN: 978-3-8379-2883-9 273 S., 32,90 EUR, 45.50 CHF

Psychotherapie-Wissenschaft 11 (2) 2021 87–90

www.psychotherapie-wissenschaft.info

CC BY-NC-ND

https://doi.org/10.30820/1664-9583-2021-2-87b

In diesem Buch finden sich zehn Aufsätze verschiedener Autor*innen, die aus je unterschiedlicher Perspektive das Thema der Rolle der Psychotherapie in der Gesellschaft beleuchten. Ausgangspunkt des Buches war eine Tagung zum Thema «Die Psyche zwischen Natur und Gesellschaft. Theorie und Praxis der Psychotherapie im Verhältnis zur Kritischen Theorie und Philosophischen Anthropologie» im Jahre 2017.

Ausgehend davon, dass sich Psychotherapie in unserer Zeit etabliert hat, stellt sich die Frage, ob sie als klinisches und wirksames Verfahren gesellschaftlich dazu dient, leidende Menschen an die Forderungen der Gesellschaft anzupassen und sie arbeits- und funktionsfähig zu halten, oder ob Psychotherapie der Gesellschaft mehr zu bieten hat, um die Kultur zu bereichern und zu ändern. Zumeist ist mit dem Überbegriff Psychotherapie allerdings die Psychoanalyse gemeint. Mehrere Autor*innen beziehen sich auf Freuds Das Unbehagen in der Kultur, die als revisionistisch bezeichnete Psychoanalyse gemäss Karen Horney mit der Ausrichtung des Individualismus und die Kritische Theorie von Adorno, Horkheimer und Marcuse, wobei zumeist auf Adorno rekurriert wird.

Im einleitenden Kapitel von Inga Anderson und Sebastian Edinger wird der Rahmen des Themas gespannt, das die Autor*innen in verschiedenen Facetten behandeln. Markant ist ein Zitat von Horkheimer: «Die Hilfe des Psychotherapeuten, wohltätig wie sie im einzelnen Fall wirken mag, ist letztlich nur ein weiterer Faktor, den Menschen einzugliedern, ein weiteres Element der Manipulation» (S. 10). Es wird nachgezeichnet, wie Psychotherapie sich in verschiedene Verfahren entwickelte, was für Grabenkämpfe sich etwa zwischen den tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Vertreter*innen ergaben und wie der «Psychoboom» in den 1970er Jahren die Therapieszene und die Gesellschaft nachhaltig veränderte. Trotz Kritik durch die Antipsychiatrie-Bewegung, der Studentenbewegung und der Kritischen Theorie hat sich Psychotherapie durchgesetzt, nicht zuletzt dank ihrer Verwissenschaftlichung, Forschung und Professionalisierung.

Christine Kirchhoff schreibt über «Dazwischen. Psychoanalyse in der Gesellschaft: als Theorie und Praxis». Sie bezieht sich auf Adorno und Paul Parin, welche die psychoanalytische Theorie und Praxis immer auch als Kritik an der Gesellschaft verstanden, da nur so die Bearbeitung von Konflikten, die ihre Wurzeln auch im Gesellschaftlichen hätten, bearbeitet werden könnten.

Christine Zunke bearbeitet das Thema «Die Materialisierung der Psyche. Neurophysiologie als Spiegel entfremdeter Gesellschaft». Durch die wissenschaftliche Fokussierung auf die Neuropsychologie hat die Psychologie ihren Gegenstand von der Psyche auf das Gehirn verschoben. Durch die Reduktion psychischer Leidenszustände (wie etwa der Depression) auf fehlende Botenstoffe im Gehirn wird die Psychotherapie verwandelt in eine Pharmakotherapie. Ausser Acht wird gelassen, dass psychische Vorgänge zwar mit Gehirnaktivitäten und neurophysiologischen Prozessen verbunden sind, diese naturwissenschaftliche Perspektive aber keinerlei Hinweise auf Bedeutung geben könne, da sie kein Subjekt kennen, das in einer subjektiven psychischen Innensicht dem Erlebten Bedeutung gäbe. Die Frage, ob ein gestörter Stoffwechsel Ursache oder Folge von Gemütszuständen ist, wird ausgeschlossen, wenn man den Blick nur auf die Ursache legt. Gerhard Roths Forschungen werden von der Autorin hart kritisiert. «Wenn ich mein Gehirn bin, ein physikalischen Gesetzen folgender Prozess, dann bin ich nicht das Subjekt meiner Handlungen, sondern Objekt. Dann gibt es keine echte Emanzipation, sondern nur Manipulation» (S. 61f.).

Frank Schumann behandelt das Thema «Sozialutopie und Therapie. Zur Vernachlässigung des therapeutischen Erfahrungsfeldes für die Kulturkritik». Aus Sicht von Rousseau oder dem «sozialistischen Patientenkollektiv» kam als Gedankenfigur die Kritik an der Psychotherapie, ob individuelle Psychotherapie gegenüber der Perspektive gesellschaftlicher Veränderung unbedeutend oder dieser gar abträglich sei. Freuds Postulat, dass Triebverzicht und Sublimierung eine kulturelle Notwendigkeit darstellen, wurde von Reich kritisiert. Triebverzicht sei keine anthropologische Notwendigkeit, sondern ein Ergebnis einer repressiven patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft. Diese Kritik wurde auch von Erich Fromm und Herbert Marcuse wiederholt. Eine radikale Sicht, dass psychisches Leiden unmittelbar auf Gesellschaftliches zurückzuführen sei, übergeht, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise auf Gesellschaftliches reagieren. Es braucht ein differenziertes Bild des Zusammenwirkens von Individuellem und Gesellschaftlichem, das sich wechselseitig beeinflusst.

Siegfried Zepf widmet sich dem Thema «Psychoanalyse, Warenanalyse und Verdinglichung». Er konstatiert einen offensichtlichen Verzicht der Psychoanalytiker*innen auf gesellschaftliche Fragen ihrer ökonomischen Situation, könnten diese doch ganz gut darin leben. Psychoanalytische Dienstleistungen seien Waren, die der Autor aus der Perspektive der Marx’schen Warenanalyse erkundet und nach Konsequenzen fragt, die aus diesem Warencharakter für den Umgang mit der Psychoanalyse und den Patient*innen resultieren. Er kritisiert die Übernahme des Terminus «analytische Psychotherapie» anstelle von Psychoanalyse ebenso wie die Gleichstellung verschiedenster psychoanalytischer Unterrichtungen und Behandlungssettings als rein monetär motiviert. Das lasse auch in der Forschung keine verallgemeinernden Ergebnisse für die Psychoanalyse zu.

Andreas Heinz schreibt zum Thema «Normativität und Normalisierung in der Diskussion um einen Begriff psychischer Krankheit». Er setzt sich kritisch mit Diagnostik auseinander. Mit Bezug auf Foucault sieht er Krankheitsklassifikationen als Stigmatisierung und Entwertung von Verhaltensweisen, die vorherrschenden Normen nicht widerspruchslos unterworfen werden können. Diagnostik ist mit sozialen Vorurteilen verbunden, wie auch die Revision des DSM in die 5. Auflage zeigt. Als Störungen sollten nur solche angeführt werden (wie in der Medizin üblich), die lebensrelevante Funktionsbeeinträchtigungen mit sich bringen. Das sei bei einer Vielzahl von Störungsbildern der WHO und der APA nicht der Fall. Er plädiert für einen engen Begriff psychischer Krankheit.

Patricia Gwozdz präsentiert einen Beitrag zur Praxis der Psychotherapie in Form eines klinischen Tagebuchs. Sie formuliert Ansätze zu einer philosophischen Anthropologie der Genesungsprosa. Leiden, Schreiben und Heilen gehören seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur klinischen Literatur, wie sie mit Bezug auf Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften feststellt. Den Begriff des Klinischen Tagebuchs hat Sándor Ferenzi geprägt. Zur Genese gehört, dass man sein Leiden und den Genesungsweg in Sprache fassen kann. Sie illustriert das mit historischen Praxisbeispielen.

Martin Heinze widmet sich dem Thema «Sozialität und Dialektisches Denken». Er bezieht sich auf Thomas Fuchs, der psychische Krankheit nicht einer neuronalen Innenwelt zuordnet, sondern sie als Störungen in den ökologischen und sozialen Beziehungen von Subjekt, Gehirn, Organismus und Umwelt fasst. Die Loslösung vom Individualismus wird hier zunächst mit dem Begriff der Intersubjektivität zu leisten versucht. Die Ich-Perspektive wird ergänzt durch eine Du-Perspektive (Intersubjektivität) und dann erweitert durch eine Wir-Perspektive (Sozialiät). Er plädiert für eine dialektische Methode, die es als neues Denkschema ermöglichen soll, das getrennt erscheinende Paar individueller Mensch und Gesellschaft wieder zusammen zu denken, ohne die Fortschritte der Emanzipation des Menschen zurückzunehmen. Dabei greift er auf Merleau-Ponty zurück (Phänomenologie der Wahrnehmung), der postulierte, dass die Analyse von Leiblichkeit die Voraussetzung dafür sei, freiheitliche menschliche Existenz zu denken. Sein Fazit lautet, dass die Struktur des individuellen psychischen Erlebens und menschlichen Handelns aus geronnener Sozialiät und Kultur, ebenso auch Materialität besteht, «all dies verankert nicht nur im Bewusstsein des Einzelnen, sondern auch im individuellen und kollektiven Unbewussten» (S. 165).

Sebastian Erdinger liefert einen längeren Beitrag zur «Kritik des Individualismus und Apologie der Libidotheorie». Er arbeitet die Stellung von Adornos Kritik der revisionistischen Psychoanalyse Karen Horneys innerhalb seiner Kulturkritik heraus. Nachgezeichnet werden Horneys Freud-Kritik und ihre Revision der Theorie der Neurose, die ein individualistisches Therapieverständnis mit sich bringt. Adorno kritisiert Horneys Begriff der Individuation und ihre Unterschätzung der Libidotheorie. Die Libido bilde einen immanenten Umschlagspunkt der psychoanalytischen Dynamik zwischen Ich und Es, die nicht dualistischer Natur sei, weil beide Instanzen gesellschaftlich bestimmt seien, ohne bloss gesellschaftliche Produkte zu sein. Adorno kritisiert die Psychotherapie als Teil der Kulturindustrie, die Menschen zu dem machen wolle, was sie nicht sein sollten, indem sie blind dafür gemacht würden, was sie könnten, weil sie Ideologie und damit Verdinglichung prolongieren, wo sie Reflexion befördern sollten. Individualismus bezeichnet er als Ideologie, der u. a. Horney mit ihrer Revision der Psychoanalyse anhänge. Er vertritt die Ansicht, dass Psychotherapie das Individuum nicht mit dem, was in ihm der Konformierung Widerstand leiste konfrontiere und trage so zur Konformierung bei und vertiefe sie. Die Libidotheorie sei nicht nur Kernstück der radikalen Psychoanalyse, sondern auch jeder ernst zu nehmenden Kultur- und Gesellschaftskritik. Psychotherapie solle nicht nur die Patient*innen, sondern auch sich selbst in ein kritisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Prozessen, in die sie eingelassen sei, stellen.

Inga Anderson schliesslich schreibt im abschliessenden Aufsatz über «Behagliche Kultur. Der Triumph des Wohlbefindens». Sie zeigt, dass «das Therapeutische» einen Triumph seit den 1960er Jahren erzielte. Damit ist eine tiefgreifende Veränderung gemeint, welche die westliche Kultur auf nie dagewesene Weise in ihren Grundfesten erschütterte. Sie stützt sich auf die Publikationen des US-amerikanischen Soziologen Philip Rieff. Die Kritik an der Psychotherapie ist ätzend: ob der Triumph des Therapeutischen die neue Form sozialer Kontrolle sei?

«Die Befürchtung, dass Psychotherapie zwar am und mit dem Individuum arbeite, letzten Endes aber nicht im Dienste des Individuums, sondern im Dienste einer dieses ausbeutenden Gesellschaft steht, ist heute ein wichtiges Motiv der Kritik der Psychotherapie. […] Weil Psychotherapie selbst in die Funktionsmechanismen des Neoliberalismus eingebunden sei, könne sie sich nicht daran orientieren, was für das leidende Individuum das Beste ist, sondern müsse dieses funktions- und gesellschaftsfähig halten» (S. 263).

Kontrolliert wird diese Aufgabe durch Krankenkassen, die dafür Sorge tragen, dass ausschliesslich dies bezahlt wird.

Mit Interesse am Thema habe ich das Buch gelesen und fühlte mich zeitweise an die 1970er Jahre erinnert – mit den Auseinandersetzungen der Rolle der Psychotherapie in der Gesellschaft, der Kritischen Theorie, dem Aufbruch, den man sich von den neu entstandenen Psychotherapierichtungen versprach, der Reflexion vom Leiden des Individuums an der Gesellschaft und den Leiden der Gesellschaft. Die Lektüre war anspruchsvoll, um nochmals in die Welt der Philosophie der Frankfurter Schule, der Kritischen Theorie, der Phänomenologie und Anthropologie einzutauchen. Das Buch bietet keine Nachtlektüre, aber eine gute Sammlung spannender Beiträge, die zur eigenen Reflexion der beruflichen Praxis und deren gesellschaftlichen Eingebundenheit anregen.

Peter Schulthess