Psychotherapie-Wissenschaft 11 (2) 2021 5–6
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Das vorliegende Themenheft ist der Arbeit mit Träumen aus der Sicht unterschiedlicher Psychotherapieverfahren gewidmet. Dies hat sich als faszinierendes Unterfangen herausgestellt, denn die Perspektiven zeigen sich enger miteinander verwoben als vermutet, wenn die expliziten und impliziten Aussagen übereinandergelegt werden und ihre Kongruenz sichtbar wird. Für die Tatsache, dass sich Traumarbeit im imaginären Raum abspielt, ist diese Kongruenz durchgehend.
Die Traumbearbeitung in der Jung’schen Psychotherapie wird von Verena Kast beschrieben. Die Arbeit mit Träumen hat in der Analytischen Psychologie eine zentrale Bedeutung, bildet eine Kernkompetenz und wichtige Technik, weil Träume als Via regia zum Unbewussten wichtige Informationen liefern können. So geben Träume Hinweise, wohin die Entwicklung gehen könnte, ermöglichen wieder Interesse am Leben, neue Sinnerfahrung, verweisen aber auch auf Verdrängtes. Sie regulieren Emotionen, besonders im Zusammenhang mit Beziehungen, und sind auch zentral wichtig für die therapeutische Beziehung. Dies entspricht zwei Traumtheorien: Träume werden von dysfunktionalen verinnerlichten Beziehungsmustern bewirkt und sie aktivieren Ressourcen, indem sie einseitige Bewusstseinseinstellungen kompensieren.
Im Zusammenhang damit, dass Träume neue Ideen ins Leben einbringen, sprach C. G. Jung vom Meditieren der Träume, dass man, um zu wissen, was denn der Traum anregt, ihn mit sich herumträgt. Natürlich sprach er auch vom Deuten der Träume, aber auch von der «Traumdeutung als der Quintessenz aller Unsicherheit und Willkür.» Das Meditieren der Träume, die Imaginationen wahrzunehmen, die mit ihnen verbunden sind, ergebe wichtige Hinweise für den Umgang heutiger Psychoanalytiker*innen Jung’scher Richtung mit Träumen.
Bereits Jung stellte eine Verbindung zwischen den Tagt- und Nachttraum her, indem er auf die grundlegende Bedeutung der Fantasie, der Imagination, verwies. Diese Sicht, so Kast, werde durch aktuelle neurowissenschaftliche Forschungen gestützt, die Tagträume und deren Beziehung zu den Träumen in der Nacht – aber auch zur Kreativität – untersuchen und ein Kontinuum zwischen beiden Träumen postulieren. Deren Erkenntnisse liefern für Kast eine empirisch gesicherte therapietheoretische Grundlage für ihre imaginative Arbeit mit Träumen, die sie durch ein Fallbespiel illustriert.
Der Beitrag zur psychoanalytischen Sicht von Veronica Defièbre verortet sich nicht im therapeutischen Setting. Treffend kann man ihn als spannenden und originellen Beitrag zur Traumforschung bezeichnen, obwohl die Autorin dies nicht tut. Er beruht auf einer Versuchsanordnung, die von einer Gruppe von Psychoanalytiker*innen des Psychoanalytischen Seminars (PSZ) aufgezogen wurde und als «Traumstationen» bezeichnet wird. Diese sind aus dem psychoanalytischen Setting gelöst. Sie wurden an verschiedenen Orten in der deutschsprachigen Schweiz aufgestellt, in die jede*r verschriftliche Träume einwerfen konnte, um eine ebenfalls schriftliche psychoanalytische Deutung zu erhalten. Auch über eine E-Mail-Adresse und eine Hotline konnten Träume eingereicht werden. Diese Versuchsanordnung wurde inspiriert durch die Traumseminare, die am PSZ durchgeführt werden und auf Fritz Morgenthaler zurückgehen. Sie ermöglichte es, Zugang zu Träumen losgelöst von jeglichem Kontext zu erhalten.
Durch das Traumstationen-Projekt sei immer deutlicher geworden, dass Träume grundsätzlich anonym seien. Die Autor*innenschaft sei allerdings auch im analytischen Setting, nicht immer so klar. Der Traum, seine Erzählung und Deutung seien etwas Eigenes, das von einem Irgendwo herkomme, das man selbst nicht kenne, das etwas Fremdes enthalte, was nach psychoanalytischem Verständnis dem Unbewussten entspreche und nur assoziativ zugänglich sei. Zudem gebe es das Phänomen, dass viele Träume Themen enthielten, die über die Träumenden hinausgingen, zum Beispiel sich speisen würden aus sozialem und politischem Geschehen, Jahreszeiten und geschichtlichen Ereignissen, aus körperlichen Quellen und solchen, die man gar nicht genau bestimmen könnte. Träume würden sich also klar kontextabhängig zeigen und seien auch so zu verstehen.
Wie in der Gestalttherapie mit Träumen umgegangen wird, beschreibt Peter Philippson. Mit dem Titel «Dreaming in the World» betont er seinen feldtheoretischen Ansatz, wonach Träume eben nicht aus dem Nichts, sondern in einem bestimmten zeitgeschichtlichen sozialen Kontext stehen. Seinen Beitrag gliedert er in zwei Teile. Im ersten geht er der Frage nach, was ein Traum sei und wie in der gestalttherapeutischen Tradition Träume auf ungelöste Konflikte, sogenannte «unfinished situations» hinweisen würden. Er beschreibt drei Typen von Träumen: Träume als Projektion, Träume als Retroflektion und Träume als Ausdruck des Feldes, in das ein Mensch eingebettet ist, die er je mit einem kurzen Fallbeispiel illustriert. Er schliesst den ersten Teil mit Überlegungen zur Interpretation von Träumen. Im zweiten Teil geht er der Frage des Traums als Realität nach und reflektiert einen Zusammenhang zum Leben und Träumen als eine Kunst. Der Traum wird als künstlerischer, kreativer Ausdruck der gelebten Umgebung verstanden.
Der Umgang mit Träumen in der personzentriert-experienziellen Körperpsychotherapie wird von Christiane Geiser dargestellt. Sie ist Mitbegründerin und ehemalige Ausbildungsleiterin des Institutes GFK. Es gründet auf der Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers und dem Focusing nach Eugene T. Gendlin. Ihr Beitrag stellt die Geisteshaltung dar, die es ermöglicht, sich beim Weg durch die Psychotherapie ganz von neuen kleinen Einsichten der Klient*innen leiten zu lassen. Anhand eines sich wiederholenden Traums einer Klientin über einen Vogel in einem Käfig stellt sie beispielhaft die Methode sowie ihren therapietheoretischen und philosophischen Hintergrund dar. Grundlegend ist die bei Rogers bekannte «Abwesenheit einer Apriori-Bedeutsamkeit von Themen oder Inhalten, die es in der Therapie zu beachten gäbe». Als Agens wirkt die Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in und die Beziehung der Klient*innen zu sich selbst und zu anderen. Es geht somit nicht um die Interpretation, sondern um Gendlins «Felt Sense», ein spezifisches körperliches Empfinden, das zur Überprüfung dienen kann, ob wirklich neue kleine Einsichten, das heisst Annäherungen an die persönliche Bedeutung des Traums entstehen. Solch kleine Schritte bilden im Fallbeispiel für die Klientin den Weg aus dem Käfig und die Wahlmöglichkeit, wann und ob sie sich lieber in Freiheit ausserhalb oder in Sicherheit innerhalb des Käfigs aufhalten will.
Luzides Träumen wird auch als Klarträumen benannt und meint jenes Träumen, bei dem die träumende Person weiss, dass sie träumt, und den Traum auch willentlich beeinflussen kann. Die Arbeit «Luzides Träumen als Technik in der Psychotherapie» von Brigitte Holzinger und Eirin Fränkl bezieht sich auf Studien aus der Forschung zu luziden Träumen. Damit zeigen sie die wissenschaftlichen Grundlagen zur Anwendung der Technik des luziden Träumens in der Psychotherapie auf. Insbesondere zur Reduktion von Albträumen gibt es vermehrt Hinweise auf das therapeutisches Potenzial. Da es nur um das luzide Träumen an sich geht und nicht um die Bedeutung von Trauminhalten, ist es Sache der Schulen, diese im Zusammenhang mit dem luziden Träumen zu bearbeiten. Damit ebnet sich ein Terrain für einen hochwirksamen Weg etwa in der Therapie Traumatisierter. Und – natürlich auch in der besonderen Form des Bewusstseinserlebens beim luziden Träumen sind Imagination und Fantasie grundlegend. Trotz der vielversprechenden Ergebnisse befinde sich die Forschung zum luziden Träumen als Therapieansatz in der Psychotherapie noch am Anfang, bemerken die Autorinnen. Weitere Untersuchungen in diesem Bereich seien notwendig, um die Mechanismen von Klarträumen in der Psychotherapie besser zu verstehen und dementsprechend das Luzidtraumtraining weiterzuentwickeln.
Zum Abschluss des Schwerpunktes stellt Paolo Migone wieder einige Abstracts zum Heftthema aus der Zeitschrift Psicoterapia e Scienze Umane zur Verfügung.
Unter der Rubrik «Originalarbeiten» folgt ein Beitrag einer Autor*innengruppe der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien. Christiane Eichenberger und ihre Mitautor*innen widmen sich der Online- und Telepsychotherapie. Lockdowns aufgrund der Covid-19-Pandemie zwangen Psychotherapeut*innen dazu, vorübergehend abzukehren vom Face-to-Face-Setting und stattdessen Therapien via Internet oder Telefon weiterzuführen. Im Beitrag werden Auswirkungen davon vorgestellt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine stabile therapeutische Beziehung die Bewältigung des Settingwechsels begünstigte. Für manche Patient*innen ist Onlinetherapie gar besser geeignet als Face-to-Face-Therapie. Therapeut*innen wiederum haben durch die Erfahrungen des erzwungenen Settingwechsels ihre Einstellung zu E-Health geändert. Neun von zehn Therapeut*innen würden auch weiterhin dieses Setting anbieten wollen, würde es denn von den Krankenkassen vergütet.
Das Heft runden zwei Tagungsberichte und vier Buchbesprechungen ab.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
Mario Schlegel & Peter Schulthess