Rezension

Theodor Itten

Jürgen Neffe (2014): Mehr als wir sind.

München: C. Bertelsmann. 408 Seiten. € 19.99 / Sfr. 28.50

Jürgen Neffe, geboren 1956, ist promovierter Biochemiker, mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftsjournalist und lebt als freier Autor in Berlin. Er hat in den 1990er Jahren als Reporter für Geo und Spiegel gearbeitet. Er hat bislang zwei wichtige Bücher, welche für uns PsychotherapeutInnen auch interessant sind, veröffentlicht. Zum 200. Geburtstag reiste er auf den Spuren von Charles Darwin um die Welt, um erfahrungsreflektierter seine Darwin-Biografie (2008) mit dem Motto: Wer teilt, überlebt, zu schreiben. Die Einstein-Biografie (2005) wurde 2007 von der Washington Post zum "Book of the year" gewählt. Nach seinem Bericht von der berühmtesten Reise der Wissenschaftsgeschichte, Darwins Beagle Reise, nimmt Neffe uns, in seiner autobiographische Fiktion, auf eine Reise ins Innere unseres menschlichen Daseins mit. Gegeben wird die verzwickte Lebensgeschichte von Janush Coppki, geboren 1979. Der leicht schüchterne Sohn von Hippie–Aussteiger–Eltern wächst bei den Grosseltern väterlicherseits auf, wird Chemielaborant und ist Anfangs unseres Jahrhunderts auf der faszinierenden Suche nach einer der wenigen, noch nicht aufgedröselten Weltformeln unseres irdischen Lebens. Dabei entdeckte der Spurlose, dank dem Glauben an sich selbst, ein wundervolles Elixier, dank dem wir Menschen nicht mehr schlafen müssen, wenn wir so wollen. Diese Wirkung des magischen Kraftstoffes tritt nur ein, wenn wir daran glauben. Dieses Mittel, das Coppki ‚den Kraftstoff des Bewusstseins nennt‘, steigert unsere imaginäre Kreativität, die vermehrte leistungsvolle Ausdauer, gibt uns eine hoffnungsvolle Zuversicht und, fast wie selbstverständlich, verbessert unsere Libido. Leider macht es, wie viele der schon bekannten zauberhaften Elixiere, abhängig. Coppki, der jetzt in seinem Zentral-Institut für Gedanken-Experimente als einziger Forscher tätig ist, gelingt es, mit seinem Wundermittel die Liebe der Fotografin Vera zu gewinnen. Sie ist, die an Schlaflosigkeit leidende Reporterin, welche mit ihrer Bitte nach einem Heilmittel gegen ihre sie quälende Schlaflosigkeit erst diese Forschung aus dem zurückgezogenen Chemielaboranten herauslockte, ja herausflirtete. In der Folge werden sie ein Liebespaar. Veras Tochter Jenny, die in Indien an einer Internationalen Schule mehr lebte als studierte und ihre Gang, genannt: ‚Freunde der Nacht‘, welche wie wir 1968er von einer besseren, gerechteren, liebevolleren und friedlicheren Welt träumen, waren es, die Coppkis Elixier als Probanden in einem Feldversuch erfolgreich ausprobierten. Jennys Vater, von Mamma geschieden und dennoch eifersüchtig auf Veras Neuen, der umtriebige Journalist und verlegerischer Entrepreneur, Leon Hard, schreibt prophetisch über die sensationelle Wachdroge, welche dadurch ihre Weltbekanntheit erreicht. In der ewigwachen Zone der Beherrschung des Selbst finden Vera und Leon wieder zusammen, derweil sich Coppki mit ihrer Jenny in einem Liebesrausch ohne Schlaf versucht. Das ist der innere Roman dieses verzwickten dreiteiligen Buches: Der Dilettant; Freunde der Nacht; Welt ohne Schlaf.

Im Kreise der analytischen Biographen, der LebenslaufdeuterInnen, werden die Rollenspiele gebraucht, um die je eigenen realen und imaginierten Lebensgeschichten weiter zu schreiben. Psychodrama live, womit dem inneren Kind der Protagonisten auf die Pelle gerückt wird. Für uns Seelenheilkundlerinnen und Seelenheilkünsterinnen geht es in diesem Buch um Schlafforschung, Lebensgeschichte Erfindung, das Erfinden von Sinnoasen, dem Glauben und Folgen der inneren Stimme, dem Leibseele Dilemma, dem Tier im Menschen und vor allem und immer wieder, um die Sprache als Annäherung an die Erfahrung im inneren Sein, das Schreiben des Lebens und der Traum vom Wollen, Können, Glauben. Wie in der Homöopathie und Placebo Forschung erleben nur diejenigen Probanden die Wirkung der Wunderdroge „Hurra“, deren chemisch molekulare Zusammensetzung sich nicht naturwissenschaftlich beweisen lässt. Während die Freunde der Nacht und ihre Nachfolgerinnen auf die Wirkung des Elixiers schwören, entstehen einige Widerstandsgruppen, die ihr Recht auf Verweilen im Kosmos des Schlafes reklamieren. Wenn wir nicht mehr schlafen müssten, dann hätten wir uns von der eigenen Tiernatur befreit und wären wie die Götter und Göttinnen der Sagen und Mythen immerzu wach. Da gäbe es keine Traumforschung mehr, weil diese innerseelischen Geschichten dem Wachsein zum Opfer fallen. Der Traum hängt am Schlaf wie Leben am Wasser, schreibt Neffe. Im Roman gibt es die innere Rollen-Gruppe, welche verschiedene Figuren der anderen Biographie schreibenden Mitglieder darbieten und plötzlich, ohne dass ich als Leser es erst merke, mit diesen und deren Geschichten verschmelzen. Eben, mehr als wir sind. Was macht der Autor da mit uns? Er spielt Illusionist mit vertrippelten Handlungen, welche leider nur gut genug in seinem Kopf spielerisch wirken. Im virtuellen DoppelgängerInnen Simulationsverfahren eines Romans, wie ein Walser oder Wolf, kann dieser Sprachtanz selten emotional angeeignet werden. Für Neffe steht sein Paradigmawechsel darin, das Wachstum nach innen und nicht mehr nach aussen zu fördern. Das Tier in uns Menschen zu zähmen sieht er als entscheidenden Entwicklungsschritt in der kultivierten Geschichte der Menschheit. Wer einmal die Früchte des Fortschritts gekostet hat…wolle niemals in die tierischen Verhaltensmuster zurückfallen…Das Ziel im Prozess der Zivilisation ist die Zivilisierung des Menschen…Die Beherrschung und Überwindung seines animalischen Kerns. Vorerst ist der Dompteur, mit seinem wirksamen Mittel der beherrschten Sprache, gut unterwegs. Der Traum vom Ende aller Träume endet im Bild einer Brücke über das Nichts. Diese Brücke, ins emotionale Innere führende Gegenwärtige, kommt in diesem Roman erst auf Seite 97. Da beginnt die Ausstrahlung der Dialoge, in dem Moment, wo Coppki die Emerita Isabell Goldemer zu einem Gespräch trifft. Diese Forscherin hat die Gabe, die räumlichen Formen der Eiweisskörper aus der Reihenfolge ihrer Bausteine vorhersagen zu können. Da beginnt das Unbewusste durch die innere Dialogstimme zu sprechen. Hier glänzt Neffe in seiner Kunst der Dehnung, uns im wirklichen Leseaugenblick, ohne Verwirrung, genussvolle Beziehungs-Bilder zu beschreiben. Wenn Sie, liebe zukünftige Leserin und lieber Leser, diese Wortkletterei im Feuerwerk des Wissens bis dahin geschafft haben, können Sie sich auf ein schäumendes Bad im Neff’schen Sprachmeer freuen.