G. Francesetti, M. Gecele & J. Roubal (Hrsg.) (2016): Gestalttherapie in der Klinischen Praxis: Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts

Aus dem Englischen von Anna Jell. Gevelsberg: EHP-Verlag Andreas Kohlhage. 733 Seiten. € 49.99

Psychotherapie-Wissenschaft 7 (1) 75–76 2017

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Dieses enzyklopädisch anmutende Gestalttherapie-Handbuch ist erstmals 2013 auf Englisch erschienen und wiegt, schwergewichtig wie es im doppelten Sinne ist, satte eineinhalb Kilo. Es am Tisch zu lesen ist angenehmer als am Strand. Von den 54 Mitschreibenden sind 23 Frauen dabei. Unter den 31 Männern befinden sich zwei Schweizer: Dieter Bongers und Peter Schulthess. Zwanzig Nationen aus drei Kontinenten sind vertreten: aus Nord- und Südamerika sowie aus Europa. Diese Momentaufnahme der Grundlage und Weiterentwicklung dieser Psychotherapieform kommt in vier Teilen daher, welche jedoch – dankbarerweise – in ihrer manchmal fast überbordenden Detailfülle gut miteinander verwoben sind. «Eckpfeiler dieses Buches», schreiben die HerausgeberInnen im Vorwort, ist das Erkennen, dass «das individuelle Leiden entsteht aus einem beziehungsbezogenen Grund, und dies gibt der Therapie eine Bedeutung und eine Richtung.» Das Entstehen des Buches ist eine kollektive Bildung (um nicht zu sagen: Gestaltung) einer Figur, der vor dem Hintergrund der kontemporären europäischen und amerikanischen Gestalttherapie eine Zusammenführung von Menschen und Ideen unterschiedlicher Herkunft, Kontexte und Erfahrungen gelingt. Die Übersetzerin, Anna Jell, hat einen flüssigen und stimmigen Text erarbeitet.

Der erste Teil beschäftigt sich mit den grundlegenden Prinzipien der Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Was ist und wie hat sich Gestalttherapie entwickelt? Wie funktioniert die Diagnose, Prognose und das Nachdenken über Psychopathologie? Mit was für Erfahrungswerten kann die Gestaltforschung aufwarten? Wozu brauchen gestalttherapeutische Behandlungen situative ethische Richtlinien? Viele Fragen werden aufgeworfen und noch mehr differenzierte Antworten gegeben. Die italienische Grand Dame der Gestalttherapie, Margherita Spagnuolo Lobb, umreisst gekonnt die wichtigsten, historisch geformten Prinzipien dieses Zugangswegs zu seelischem Leiden und beschreibt die gesellschaftliche Befindlichkeit seit den 1950er Jahren bis heute, in der diese Methode und Technik – durch ihren Hauptfokus auf das Faktotum der therapeutischen Beziehung im «Hier und Jetzt» – ihre erlebbaren Akzente setzt. Eine Psychotherapie ist ein Erlebnis.

«Die Gestalttherapie verbindet also auf eine wunderbare Art und Weise die ‹animalische› und die ‹soziale› Seele, die in der philosophischen Kultur der westlichen Welt über Jahrhunderte hinweg als unvereinbare Gegensätze betrachtet werden: Wenn der Kontakt ein übergeordnetes Motivationssystem ist, gibt es keine Trennung zwischen dem instinktiven Überlebenstrieb und dem sozialen Wunsch nach Gemeinschaft» (S. 39).

Dies ist einer von vielen Kernsätzen dieses Buches.

Ein Perspektivwechsel weg vom Allgemeinen ins Spezifische der gelebten Kontexte, das heisst eine Bandbreite praxisorientierter sowie fokussierter Betrachtungen, ist im zweiten Teil mit seinen fünf Kapiteln an der Reihe. Die politische Dimension der Gestalttherapie wird diskutiert, der soziale und multikulturelle Kontext wird debattiert. Die verschiedenen Entwicklungstheorien, welche in dieser weltweit populären Modalität zur Anwendung kommen, bereichern sie, nach Fritz Perls’ sozialpsychologische Theorie des Lebenskontextes, vom Du zum Ich zum Wir. Bezüglich der Frage, wie wir als Kinder zwischen vier und zwölf Jahren sozial und charakterlich geprägt wurden – im Guten wie im Schlechten und dem Dazwischen –, verdankt die moderne gestalttherapeutische Arbeit mit Kindern ihrer Pionierin, Violet Oaklander, viel. Die fünf Kapitel im dritten Teil beschäftigen sich mit den spezifischen Lebenssituationen (sei es von Kindern und Jugendlichen oder von älteren Menschen), mit den zum Leben gehörenden Verlusten und mit unserem Trauern, nachdem uns ein Mensch, freiwillig oder nicht, für immer verlassen hat. Wie können wir im lebendigen Vorwärtsgehen nach traumatischen Erlebnissen durch eine gestalttherapeutische Behandlung unterstützt werden? Die Antworten liegen vor.

Der mit 15 Kapiteln vierte und längste Teil hat es in sich, insbesondere für PraktikerInnen. Die vielen spezifischen Leiden, welche hier aus verschiedensten Gestaltpraxen geschildert werden, reichen von psychosomatischen Störungen, über zwanghafte, ängstliche, depressive, psychotische, bipolare Lebensleiden bis hin zu Demenz, Sexualität, Hysterie und diversen Persönlichkeitsstörungen (also Störungen in der Entwicklung der Persönlichkeit). Soweit ich weiss, ist diese globale Fallübersicht einmalig. An dieser Stelle hat Peter Schulthess seinen Auftritt. Zusammen mit dem US-amerikanischen Autor und Gestaltforscher Philip Brownell schreibt er über abhängiges Verhalten. Sie schildern gekonnt die phänomenologischen Konstrukte, welche sie in ihrer tagtäglichen Arbeit für das Verstehen der Abhängigkeit und deren Gesundung als dienlich erachten. Ihr Fokus als Gestalttherapeuten und -theoretiker ist jeweils auf das «Hier und Jetzt», weniger auf das «Warum» als auf das «Wozu» ausgerichtet. Der Genesungsprozess, unterstützt durch Psychotherapie, ist jeweils gesteuert von der Vorstellungkraft eines frischen, erfüllenden Lebens. Die Süchtigen sind in der Therapie im eigenen Übergang zu einer neuen Lebenswelt. Die innere Lebenshaltung und der Erlebnishorizont eines jeden von uns entsprechen der Welt, die wir haben (werden) sowie der Grenze dessen, was (uns) erreichbar ist. Mithilfe von verschiedenen spannenden Fallbeispielen erläutern uns die beiden erfahrenen Gestalttherapeuten, wie sich das übermächtige, zwanghaft gewordene Verlangen nach einem als «seelig» erscheinenden erfahrungsbedingten Zustand, in eine diktierende Sucht entwickelt hat. Die subjektive Seite dieses Erlebens gilt es – für die Therapeutin bzw. den Therapeuten – zusammen mit den von ihnen skizierten Felddynamiken zu erfassen. Durch eine Suchttherapie können diejenigen, welche sich so auf den Weg zu Ex-Süchtigen gemacht haben, erleben, wie ihre geschrumpfte Lebenswelt sich erneut ausdehnen kann. In den Therapiesitzungen geht es um das «Was ist?» und nicht um das «Was sollte sein?». Schulthess praktiziert mit der in der Gestaltpraxis üblichen experimentellen Haltung. Dies führt zu einer fliessenden Bewegung im Erkundungsprozess und der therapeutischen Beziehung. Wir alle, ob KlientInnen oder PsychotherapeutInnen, sind in unseren eigenen Lebensstil hineingewachsen. In jeder Sucht ist eine schlummernde Autoaggression als Lebensmuster ein offenes Geheimnis. Die Grenzen der Therapie können gemeinsam mit der Frustrationstoleranz erweitert werden, wenn sich die Therapeutin bzw. der Therapeut mit ihrer bzw. seiner eigenen, der Situation angemessenen Selbstoffenbarung als Mitmensch einbringt. Fazit: Gestalt-Praxis und -Theorie orientiert sich grundsätzlich an der Selbstverantwortung der Menschen, der beziehungsorientierten Grössenordnung der je eigenen Lebenswelt.

Der andere Schweizer Autor, Dieter Bongers, beschäftigt sich mit gewalttätigem Verhalten und seiner Erfahrung mit Personen, die wegen einer richterlichen Massnahme eine Psychotherapie machen müssen. Er folgert, dass dieser Therapiezwang für die TherapeutInnen bedeutet, eine stabile und verlässliche Beziehung zunächst aufzubauen und dann auch aufrechtzuerhalten. Auch er schildert anhand von Fallbeispielen, wie die Machtfrage – wer entscheidet was, warum, wieso und wozu? – schon immer in die psychotherapeutische Behandlung hineingehört, damit wir mit den eigenen Fähigkeiten, den eigenen Dummheiten und Freiheiten selbstregierend umgehen können.

Berufspolitisch wird dieses Buch von den HerausgeberInnen als ein wichtiger Meilenstein für die klinische Anerkennung in Deutschland und der wissenschaftlichen Verankerung der Gestalttherapie in der gegenwärtigen Reform des Psychotherapeutengesetzes bzw. der Psychotherapeutenausbildung gesehen. Eine Verabschiedung dieses längst fälligen Reformgesetzes wird in dieser bis Ende 2017 dauernden Legislaturperiode des Bundestages nicht mehr erfolgen. «Es geht im Kontaktverhalten nach innen und aussen auch um Phänomene der Stimmigkeit zwischen den verschiedenen Teil-Kompetenzen, die das Kontaktverhalten modulieren bzw. ihm Dissonanzen oder Konsonanzen verleihen.» Die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren wird heute in Effektstärke (ES) angegeben. In einer Metaanalyse von R. Elliot et al. (2013) liegt die ES von humanistischen Verfahren bei 0.93 (bei einer mittleren Effektivität von 0.5). In dieser Studie ist die heutige Gestalttherapie dasjenige Psychotherapieverfahren, das weltweit je nach Diagnosegruppe hohe Effektstärken von 1.112 bis 1.4 aufweisen kann. Das ist ein beflügelndes Resultat.

Die gute, ja prächtige Idee der zwei Herausgeberinnen und des Herausgebers war es, jedes Kapitel von einer KollegIn kommentieren zu lassen. Dies inspiriert im Lesen ein farbenfrohes Nachdenken, ein vergleichendes Sinnieren mit den eigenen Erfahrungen. Solcherart der Präsentation wirkt antidogmatisch, was den tieferen Ursinn von Gestaltpsychologie und -psychotherapie wiederspiegelt. Die Literaturangaben sind 64 Seiten lang, wobei die ergänzende deutsche Literatur, speziell für diese Ausgabe zusammengestellt, alleine zehn Seiten einnehmen. Es gibt – «ohne Wenn und Aber» – viel zu entdecken im Reichtum der Gestalttherapiepublikationen, egal ob zu Aspekten der Forschung, zu Falldokumentationen, zu Grundlagedanken und zur Selbsthilfeliteratur. So ein Werk hätte dringend ein Sach- und ein Personenregister verdient. Es ist zu hoffen, dass diese schmerzliche Auslassung in einer zweiten Auflage korrigiert wird.

Theodor Itten