Maya Mäder (2016): Selbsterfahrung in der Psychotherapie: Die Bedeutung für den Kompetenzerwerb in der Aus- und Weiterbildung zum transaktionsanalytischen Psychotherapeuten

Münster: Waxmann. 224 Seiten. € 29,90

Psychotherapie-Wissenschaft 7 (1) 74–75 2017

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Die Selbsterfahrung, Lehrtherapie oder Lehranalyse in der Weiterbildung angehender PsychotherapeutInnen wird in dem im April 2013 in Kraft getretenen Psychologieberufegesetz (PsyG) eher stiefmütterlich behandelt. Während die erforderlichen Theoriestunden um 100 auf 500 Stunden aufgestockt wurden, wurde die Anzahl Selbsterfahrungsstunden halbiert, von den von der Schweizer Charta für Psychotherapie für ihre Weiterbildungsinstitutionen geforderten 300 Stunden auf 150 Stunden, wobei 100 Stunden im Gruppensetting absolviert werden können.

Der Frage, welchen Nutzen angehende PsychotherapeutInnen aus ihrer Lehrtherapie für ihre zukünftige Tätigkeit ziehen können, geht die Transaktionsanalytikerin Maya Mäder in ihrem lesenswerten Buch Selbsterfahrung in der Psychotherapie. Die Bedeutung für den Kompetenzerwerb in der Aus- und Weiterbildung zum transaktionsanalytischen Psychotherapeuten nach, das aus ihrer Dissertation an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien hervorgegangen ist.

Als Erstes untersucht die Autorin den Begriff «Selbsterfahrung», indem sie ihn in die Teilbegriffe «Selbst» und «Erfahrung» aufteilt. Dabei wird das Selbst ausführlich aus der Sicht der drei wichtigen Therapieströmungen Tiefenpsychologie (am Beispiel Psychoanalyse), Verhaltenstherapie und Transaktionsanalyse (humanistisches Menschenbild) beleuchtet. Erfahrung wird einerseits unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was jeweils unter diesem Begriff verstanden wird, aber und vor allem, wie konkrete Erfahrung gewonnen werden kann.

Weiter werden die Kompetenzen, welche gute und erfolgreiche PsychotherapeutInnen auszeichnen, betrachtet, aufgeteilt in die Bereiche «persönliche Kompetenzen», «Beziehungskompetenzen» und «Konzeptkompetenzen», wiederum nicht nur aus der Sicht der Transaktionsanalyse, sondern aus der je schulenspezifischen Sicht. Die dabei gefundenen Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass alle psychotherapeutischen Schulen ähnliche Kompetenzen bezüglich der Persönlichkeit und der Beziehungsfähigkeit der TherapeutInnen als wichtig erachten, in den Konzeptkompetenzen sich jedoch – ihrer Ausrichtung entsprechend – unterscheiden.

Welche Bedeutung messen nun die Schulen der Selbsterfahrung in ihren Konzepten zu und wie wird diese in der Ausbildung angehender TherapeutInnen umgesetzt? Diese Fragen versucht Mäder zunächst anhand der tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutischen und humanistischen Literatur zu ergründen. Dabei zeigt sich, dass generell alle Schulen Selbsterfahrung als wichtig erachten, dass sie aber vor allem in der Psychoanalyse und den Therapierichtungen humanistischer Ausprägung als unabdingbar angesehen wird, während die Verhaltenstherapie eher auf Selbstreflexion fokussiert. Die Gründe, weshalb Selbsterfahrung für PsychotherapeutInnen äusserst wichtig erscheint, sind die eigene Erfahrung mit der Patientenrolle, die Erfahrung mit der Umsetzung der eigenen Methode und vor allem die Möglichkeit, sich selbst in den verschiedensten Facetten kennenzulernen (Stichwort: blinde Flecken), was für die spätere therapeutische Tätigkeit von eminenter Bedeutung ist.

Der Umgang der Schulen mit dem Bereich der Selbsterfahrung in der Weiterbildung der AusbildungskandidatInnen wird zum einen wiederum anhand der Literatur, zum anderen aber auch für die Transaktionsanalyse anhand von empirischen Daten, welche von der Autorin in Interviews und einer Gruppendiskussion mit lehrenden TransaktionsanalytikerInnen erhoben werden, untersucht. Dabei zeigt sich, dass die in der Literatur gefundenen Vor- und Nachteile der Selbsterfahrung – sich selbst kennenlernen, die Patientenrolle selbst erleben, Wirksamkeit der eigenen Methode selbst erfahren, therapeutische Beziehung und den geschützten Rahmen erfahren dürfen etc. sowie auf der Nachteilseite Inkompetenz des Lehrtherapeuten, sich nicht verstanden fühlen, nicht genügend Raum erhalten – auch von den Teilnehmenden an der Gruppendiskussion und in den Interviews genannt werden. Ebenso werden die gleichen oder zumindest ähnliche Kompetenzen, die zukünftige TherapeutInnen in der Selbsterfahrung lernen, genannt, das heisst, nebst den persönlichen Kompetenzen (Ergründung und Reifung des eigenen Selbst), sowohl die Beziehungskompetenzen (anhand der engen und intimen Beziehung mit den KollegInnen in der Ausbildungsgruppe, aber vor allem auch im geschützten Rahmen der eigenen Lehrtherapie) wie auch die Konzeptkompetenzen (anhand der eigenen Erfahrung mit der Umsetzung der Methodentheorie in die Praxis).

Eine Frage, welche immer wieder auftaucht, sowohl in der Literatur wie auch in den Aussagen der empirischen Untersuchung, lautet, wann die Selbsterfahrung abgeschlossen ist und woran dies festgestellt werden kann. Hierzu wird betont, dass Selbsterfahrung eigentlich nie abgeschlossen ist, vor allem nicht während der therapeutischen Tätigkeit, sondern dass je nach Lebens- und Berufssituation immer mal wieder eine Tranche Eigentherapie nötig und nützlich sein kann. Doch – damit AusbildungskandidatInnen ihre therapeutische Weiterbildung abschliessen können – gibt es einen Punkt, an dem gesagt wird: «Vorerst ist es genug, die Selbsterfahrung reicht, um therapeutisch tätig zu sein und dem Patienten nicht zu schaden»? Eine eindeutige Antwort gibt es darauf nicht, es wird auf die Intuition und Erfahrung der Lehrenden verwiesen, zudem auf das Gefühl der Lernenden bezüglich ihrer eigenen Kompetenzen. Um dieses jedoch aufgrund von Selbstreflexion und anhand von bestimmten Überlegungen verifizieren zu können, entwickelt Mäder zum Schluss ihrer Arbeit ein Instrument, in welchem ausgewählte 15 Kompetenzen mithilfe einer «Landkarte der vier Quadranten» nach Ken Wilber (1995) – innen, aussen, individuell, kollektiv – mit spezifischen Fragen untersucht und Antworten darauf gefunden werden können: «Wo stehe ich momentan in dieser Kompetenz, wo brauche ich noch mehr und wo ist es in Ordnung für den Moment?» Das Instrument eignet sich sowohl für die eigene Reflexion als auch für Standortbestimmungen während der Ausbildung.

Die Arbeit von Maya Mäder ist differenziert, ausführlich und ein breites Spektrum beleuchtend. Sie eignet sich sowohl für Lehrende und Lernende in den verschiedenen Weiterbildungsinstitutionen der Psychotherapie als auch als Denkanstoss für bereits im Berufsleben stehende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, weil sie auf gelungene Weise die Implikationen und Auswirkungen der Selbsterfahrung sowohl nach aussen (auf die PatientInnen bezogen) als auch nach innen (bezogen auf die Befindlichkeit der TherapeutInnen) beleuchtet. Gerade diese Sicht geht im Verlauf der Berufstätigkeit oft unter, was zu einem «Ausbrennen» der PsychotherapeutInnen führen kann. Ebenso geeignet sind die Ausführungen der Autorin als Argumentarium für eine umfassende Selbsterfahrung in der Weiterbildung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

Yvonne Traber