Kriterien wissenschaftlich begründeter Psychotherapie und Aspekte ihrer emanzipierenden säkularen Spiritualität

Mario Schlegel

Psychotherapie-Wissenschaft 7 (1) 45–56 2017

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CC BY-NC-ND

Zusammenfassung: Die Kriterien wissenschaftlich begründeter Psychotherapie, wie sie in der Schweizer Charta für Psychotherapie definiert sind, wird bezüglich der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie exemplarisch auf die analytische Psychologie C. G. Jungs und auf die transpersonale Psychologie angewendet. Es wird damit gezeigt, dass C. G. Jung nicht zu den Begründern der transpersonalen Psychologie gehören kann, wie dies von deren Vertretern behauptet wird. Die Jung’sche Psychologie erfüllt die vorgegebenen Kriterien. Die transpersonale Psychologie hingegen kann sie nicht erfüllen, weil sie von einer Position ausgeht, die weder erkenntnis- noch wissenschaftstheoretisch haltbar ist, indem sie auf einer transzendenten Wirklichkeit aufbaut.

Über diese Feststellung hinaus zeigt sich zudem, dass Spiritualität säkular begründet werden kann. Die säkulare Auffassung von Spiritualität in der wissenschaftlich begründeten Psychotherapie rechtfertigt sich nicht nur aus aufge­klärten, humanistischen Idealen, welche die Autonomie und Emanzipation des Patienten schützt. Sie ist auch eine anthropologische Konstante, die ihre Wurzeln im empathischen und altruistischen Verhalten der Säugetiere hat, insbesondere der Primaten mit ihren emotionalen und kognitiven Fähigkeiten.

Schlüsselwörter: Analytischen Psychologie, C. G. Jung, transpersonale Psychologie, Erkenntnistheorie, Wissenschafts­theorie, Mentalisierung, säkulare Spiritualität, Placeboantwort

Einleitung

Aktueller Anlass zur vorliegenden Arbeit sind einerseits Aufnahmegesuche zur Anerkennung der Wissenschaftlichkeit der transpersonalen Psychotherapie bei der European Association for Psychotherapy (EAP) und anderseits Richtlinien zur Abgrenzung von wissenschaftlicher Psychotherapie von esoterisch begründeten Verfahren. Darüber ist in der EAP eine heftige Debatte entstanden. In den erwähnten Aufnahmegesuchen stellt die transpersonale Psychotherapie Bezüge zu etablierten Therapieverfahren her, indem behauptet wird, humanistische Schulen und auch Carl Gustav Jung seien ihre Begründer. Mir als Jung’schem Analytiker wurde darum die Frage gestellt, ob die analytische Psychologie auch eine transpersonale Psychologie sei, was in diesem Zusammenhang auch die Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit beinhaltet.

Im Rahmen der gesetzlichen Regelung der Psychotherapie als Heilbehandlung in verschiedenen Ländern Europas ist die Wissenschaftlichkeit psychotherapeutischer Behandlungen seit Beginn der 1990er Jahre zu einem Politikum geworden. Um die Psychotherapie als eigenständiges Wissensgebiet in ihrer Vielfalt und Interdisziplinarität zu bewahren und weiterzuentwickeln, haben damals in der Schweiz Schulen der tiefenpsychologischen, humanistischen und integrativen Hauptrichtungen eine Konferenz der psychotherapeutischen Ausbildungsinstitutionen und Fachverbände gebildet, die einen Konsens über Inhalte, Ausbildung, Wissenschaft und Ethik in Form der Schweizer Charta für Psychotherapie (2016) erarbeitet hat. In seither regelmässigen Konferenzen und gemeinsamen Forschungsprojekten werden Inhalte und Strukturen weiterentwickelt und die Einhaltung der Vereinbarungen überprüft. Für die Forschung wurde eigens eine Deklaration erarbeitet und ein Reglement für die Kriterien erlassen, welche Psychotherapieforschung erfüllen muss, damit sie den speziellen Bedingungen der Psychotherapie entspricht (vgl. ebd.). Massgebende Akteure in diesen Prozessen waren auch an der Konstituierung und Entwicklung der EAP beteiligt.

Im Zusammenhang mit der transpersonalen Psychotherapie wird die Wissenschaftlichkeit zum Thema, weil sie von einer Position ausgeht, die weder erkenntnis- noch wissenschaftstheoretisch haltbar ist, indem sie auf einer transzendenten Wirklichkeit aufbaut. Dadurch spricht sie bei nicht wenigen Therapeutinnen und Therapeuten auch persönliche Überzeugungen an. Dies ist nicht anders zu erwarten, weil das religiöse Bedürfnis ein Grundbedürfnis vieler Menschen ist. Für die Psychotherapie als Wissenschaft kann dies aber keine Grundlage sein. Peter Schulthess hat darum die Thematik öffentlich gemacht. Mit seinem in der Verbandszeitschrift der Assoziation Schweizer PsychotherapeutInnen (ASP) veröffentlichten Artikel «Psychotherapie gehört abgegrenzt von der transpersonalen Psychotherapie und der Esoterik» (Schulthess, 2015, S. 23) hat er auch unter deren Mitgliedern eine rege Diskussion zur Spiritualität in der Psychotherapie ausgelöst.

Meine Antwort auf die Frage, ob die analytische Psychologie Jungs eine transpersonale Psychotherapie sei, lautet, dass sich die analytische Psychologie noch nie als transpersonale Psychologie bezeichnet hat und diese Bezeichnung auch in sachlicher Hinsicht keineswegs zutreffend ist. Die komplexere Antwort entfaltet die vorliegende Arbeit, sie gibt mir die Gelegenheit, die Kriterien der Wissenschaftlichkeit zur Abgrenzung von esoterischen Methoden, wie sie in der Charta festgelegt sind, auf die Jung’sche Psychologie anzuwenden. Damit werden vier wesentliche Aspekte beleuchtet:

Das Thema dieser Arbeit ist somit nicht «Jung’sche Psychotherapie versus transpersonale Psychotherapie», sondern die Anwendung der Charta-Kriterien auf alle Psychotherapieverfahren.

Exemplarische Anwendung der Erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Kriterien der Psychotherapie-Charta auf die analytische Psychologie von C. G. Jung

Die analytische Psychologie C. G. Jungs eignet sich besonders gut zur Demonstration meiner These, weil sie die Anerkennung des religiösen Bedürfnisses des Menschen als zentrale Frage in die Psychotherapie eingeführt hat. Die eingehende, über Jahrzehnte dauernde Auseinandersetzung Jungs mit religiösen Phänomenen und seine umfangreichen Vergleiche des Christentums mit anderen Religionen, bedeutete auch, dass die analytische Psychologie begonnen hat, in der Erkenntnis und Deutung der Religionen mitzureden, was vorher die alleinige Domäne der Theologie war (vgl. Schär, 1947, S. 9). Natürlich führte dies auch zur Beschreibung gewisser Ähnlichkeiten und fundamentaler Unterschiede in der Zielsetzung von Psychotherapie und Religion.

Die Psychotherapie-Charta formuliert zwei entscheidende Kriterien, um zu untersuchen, ob eine Therapierichtung anerkannt werden soll oder nicht. Das eine dieser Kriterien lautet, ob eine Therapierichtung über eine Erkenntnistheorie verfügt, welche die kritische Untersuchung unseres Erkennens auf sich selbst richtet. Im Unterschied zu rein objektivierenden Wissenschaften befindet sich das Objekt der Psychologie nicht ausserhalb der Psyche, sondern es ist die Psyche selbst, die über sich Erkenntnis gewinnen will. Es ermangelt ihr darum eines archimedischen Punktes ausserhalb ihrer selbst, wie Jung sich ausgedrückt hat. Dieses Kriterium gilt ebenso für die Erkenntnistheorie in der Philosophie (vgl. Schöndorf, 2014, S. 9). Das andere Kriterium fragt, ob eine Wissenschaftstheorie eine methodologische Selbstreflexion der psychotherapeutischen Praxis verlangt (vgl. Erismann, 2016; Schweizer Charta für Psychotherapie, 2016). Die Erfüllung dieses Kriteriums ist für die analytische Psychologie gegeben, denn im wissenschaftlichen Diskurs wurden und werden ihre Konzepte seit über hundert Jahren befragt, hinterfragt und diskutiert. Zudem sind fast alle ihrer Therapietechniken von anderen anerkannten Verfahren übernommen worden. Als Beispiel der methodologischen Selbstreflexion bezüglich angemessener Forschungsmethoden für die analytische Psychologie sei aus jüngerer Zeit die Arbeit von Ralf Vogel (2012) erwähnt. Nicht zuletzt muss in diesem Zusammenhang auch die Rezeption der analytischen Psychologie in der Religionspsychologie erwähnt werden.

Die Anwendung beider Kriterien, des erkenntnis- sowie des wissenschaftstheoretischen, sind für die Psychotherapie als wissenschaftliche Disziplin grundlegend. Sie begründen nicht nur ihre wissenschaftliche Eigenständigkeit, sondern ermöglichen auch ihre Abgrenzung gegenüber anderen Arten von Wissen, wie etwa dem Alltagswissen oder dem intuitiven Wissen (vgl. Erismann, 2016).

Die Archetypentheorie

Im Zentrum von Jungs Untersuchungen der Religionen steht der Archetypus. Die zu klärende Frage gilt somit vorerst der Anwendung der genannten Kriterien auf die Archetypentheorie. Sie umfasst drei Dimensionen: eine biologische, eine mythologische und Versuche zum Thema des Geist-Materie-Zusammenhanges.

Auf der biologischen Ebene versteht Jung die Archetypen als evolutionsbiologische Anpassungen, entsprechend den Instinkten oder den «patterns of behavior» bei den Tieren. Es sind phylogenetisch erworbene neuronale, psychische Systeme, welche die Grundlage für das Verhalten, Wahrnehmen, Denken, Verstehen, die Selbstreflexion, die Intentionen sowie die Kreation innerer Welten des Menschen bilden. Sie sind nicht nur reagierend, sondern bilden einen aktiven dynamischen Teil der Psyche, der in aktuellen Situationen und entsprechenden Interaktionen sowie entlang entwicklungspsychologischer Veränderungen regulierend wirkt, indem die natürlichen «Sollwerte» eingependelt werden.

Ins Bewusstsein treten die Archetypen in Träumen und Phantasien, oft in emotional hoch aufgeladene, mythologische Bilder gekleidet, die je nach Kultur unterschiedlich aussehen können, sich aber in ihrer Bedeutung überschneiden. Sie nehmen Bezug auf die jeweils aktuelle Innen- und Aussenwelt. Aus diesem Grund sind ihre Bilder wirksam. Das wird in der Therapie genutzt, indem sie von den PatientInnen emotional ergründet und gemeinsam mit den TherapeutInnen interpretiert werden. Dadurch helfen sie die psychischen Prozesse sinnhaft zu strukturieren. Ihre Funktion als natürliche «Sollwerte» in den unterschiedlichsten Lebenssituationen machen sie zu einem zentralen Resilienzfaktor.

Während die biologische und mythologische Dimensionen der Archetypentheorie eine Verbindung zwischen Biologie, Sozialverhalten und Kultur darstellen, bewegen sich die Versuche zum Thema des Geist-Materie-Zusammenhanges in einem völlig anderen wissenschaftlichen Kontext, indem hier die beiden Wissenschaften des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die ein neues Welt- und Menschenbild begründeten, die Atomphysik und die Tiefenpsychologie, zusammengeführt werden sollten. Dieser Theorieteil ist erst im Übergang der 1940er- zu den 1950er-Jahren durch die Zusammenarbeit Jungs mit Wolfgang Pauli, dem Nobelpreisträger für Atomphysik formuliert worden. Gedanken von Einstein und von Heisenberg, mit denen Jung persönlich bekannt war, trugen ebenfalls dazu bei. Es ging dabei um das Verständnis von sogenannten «Synchronizitätsphänomenen». Jung gebrauchte den Begriff als «zeitliche Koinzidenz zweier oder mehrerer nicht kausal aufeinander bezogener Ereignisse, welche von gleichem oder ähnlichem Sinngehalt sind» (Jung, 1952a, GW 8, §849).

Der Versuch, einen theoretischen Zusammenhang zwischen Geist und Materie zu konstruieren, war neu und entsprach dem damaligen Zeitgeist, denn Jung stand als an der Universität lehrender Wissenschaftler sein Leben lang im engen Austausch mit anderen Wissenschaftlern aus verschiedenen Fakultäten.

Das erkenntnistheoretische Kriterium

Jung gewahrte stets die erkenntnistheoretische Schwelle, auf der er sich mit diesen Überlegungen befand. Jung, ebenso wie Pauli bezeichneten ihre Theorie als Mythus ihrer Zeit (vgl. Jaffé, 1979, S. 67). Sie war ein Behelf, eine Metapher, die Jung nie in Materielles umgegossen und als objektive Wahrheit verkündet hat.

Das folgende Zitat zeigt Jungs Verständnis von Welt- und Menschenbildern:

«Wir haben das Bedürfnis nach Weltanschauung […]. Wenn wir uns aber nicht rückwärts entwickeln wollen, so muß eine neue Weltanschauung jeden Aberglauben an ihre objektive Gültigkeit von sich abtun, sie muß sich zugeben können, daß sie nur ein Bild ist, das wir unserer Seele zuliebe hinmalen, und nicht ein Zaubername, mit dem wir objektive Dinge setzen. Wir haben Weltanschauung nicht für die Welt, sondern für uns. Wenn wir nämlich kein Bild von der Welt als Ganzem erschaffen, so sehen wir auch uns nicht, die wir doch getreue Abbilder eben dieser Welt sind. Und nur im Spiegel unseres Weltbildes können wir uns völlig sehen. Nur in dem Bilde, das wir erschaffen, erscheinen wir. Nur in unserer schöpferischen Tat treten wir völlig ins Licht und werden uns selber als Ganzes erkennbar. Nie setzen wir der Welt ein anderes Gesicht auf als unser eigenes, und eben darum müssen wir es auch tun, um uns selbst zu finden» (Jung, 1931, GW 8, §737).

Dieses Zitat steht stellvertretend für viele andere Stellen in Jungs Werk und zeigt seine in weiten Teilen konstruktivistische Sicht (vgl. Schlegel, 2006, S. 189), dass Weltbilder keine objektiven Dinge sind, und dass es ihm primär um die Erkenntnis des Erkennens geht. Darüber hinaus zeigt es, wie Jung diese Feststellung mit dem (archetypischen) menschlichen Bedürfnis nach Selbsterkenntnis koppelt. Wir erkennen uns ihm zufolge im Spiegel unserer eigenen Projektionen, die das Resultat unserer schöpferischen Tätigkeit darstellen, in welcher wir die Freiheit finden, Welten zu erschaffen, von denen wir uns faszinieren lassen können.

Zur Charakterisierung des Begriffs des Archetypus hat Jung in seinen «Definitionen» auf das Stichwort «Bild» verwiesen (vgl. Jung, 1995, GW 6, §684a. Eine klarere Abgrenzung hätte er wohl nicht ziehen können, denn alles unter dem Stichwort «Bild» muss als Symbol oder Metapher verstanden werden. So geht es, um ein Beispiel zu nennen, beim Archetypus des Gottesbildes um das Symbol für einen psychischen Inhalt und nicht um ein objektives «An-sich».

Unterscheidung zwischen einer Metapher und der «Welt des Seins»

Eine Unterscheidung zwischen einer Metapher und der «Welt des Seins» zu machen scheint wegen des religiösen Grundbedürfnisses vieler Menschen schwierig oder gar unerwünscht zu sein. Zwei Vertreterinnen der Freud’schen Psychoanalyse berichten unter dem Titel «Die Energie muss fliessen» über ein Forschungsprojekt, bei dem KollegInnen, die in einem wissenschaftlichen Psychotherapieverfahren ausgebildet wurden, sich aber dann im Beruf esoterischen Therapieformen zuwandten, nach den Wendepunkten in ihrer psychotherapeutischen Orientierung befragt wurden. Die Autorinnen kamen zu folgenden Schlüssen:

«Es scheint ein Bedürfnis von Menschen zu sein, ihre Lebensgeschichte in einen mehr oder weniger kohärenten erzählerischen Zusammenhang zu stellen, der ihrer Biografie Bedeutung und Sinn gibt und ihnen ein Gefühl von Identität vermittelt. […] Unsere Untersuchungen zeigen, dass auch bei Psychotherapeuten, die von konventionellen zu spirituellen Verfahren wechselten, so gut wie immer ein sehr persönliches Moment der Sinnsuche mitspielt. […] Er soll qua Psychotherapie in Gestalt jener kosmischen Substanz gefunden werden, die ihn vermittelt. Zumeist wird diese Substanz als Energie bezeichnet. […]

Nun muss zugegeben werden, dass Begriffe wie das Unbewußte, Verdrängung oder Trieb natürlich ebenfalls die Tendenz haben, von der Welt der Metapher in die Welt des Seins überzuwechseln. Doch sind alle diese Konzepte schon sehr oft befragt und hinterfragt worden, und ein Psychoanalytiker, der so tut, als gäbe es das Unbewusste als einen Ort oder als Kraft, ist nicht auf der Höhe der Diskussion. Täte er das, dann allerdings würde er sich nicht unterscheiden von Heilern, die darauf bauen, dass höhere Geister ihnen beim Heilen die Hand führen. (In diesem Zusammenhang wird auch

C. G. Jung oft missbraucht.) Genau dieser Unterschied aber ist von zentraler Bedeutung. Die Metapsychologie Freuds verdankt ihren wissenschaftstheoretischen Platz der Tatsache, dass Freud eben nicht naiv seine Begrifflichkeit mit einem real Existierenden verwechselt hat. Der Triebbegriff wurde auch von Freud selbst einmal als Mythologie bezeichnet.

Diese Haltung erlaubt grundsätzlichen und permanenten Zweifel. Dem kann man sich entziehen, indem man hinterfragbare Modelle durch intuitives Wissen ersetzt. […] In diesem Sinne sind die spirituellen Heiler einfach vormodern (worauf sie sich ja auch gerne berufen!). Regression heißt: Zurückfallen auf ein früheres Stadium und Aufgabe eines schon einmal Erreichten. Kognitive Regression in diesem Sinne könnte heißen: Die Aufklärung nicht zur Kenntnis zu nehmen» (Jaeggi & Möller, 2000, S. 34ff.).

Die analytische Psychologie lässt nicht nur ihre eigenen Begriffe nicht in die «Welt des Seins» überwechseln, sondern zeigt – ganz im Gegenteil – auch den symbolischen Aspekt von Begriffen auf, die traditionell in der «Welt des Seins» verankert sind, wie sich das im Begriffspaar «Gott» und «Gottesbild» zeigt. Der emanzipative Aspekt der Psychotherapie gründet nicht zuletzt auf dieser Unterscheidung. Innerhalb der Psychotherapieverfahren können diese Begriffe durchaus unterschiedliche Bedeutungen und Wertungen haben, wie sich zum Beispiel beim Gottesbegriff in der Psychologie von Freud und Jung zeigen lässt: Bei Freud wird er als eine Form von Regression behandelt, während Jung ihn als eine psychische Funktion im Individuationsprozess aufnimmt.

Das wissenschaftstheoretische Kriterium und die wissenschaftliche Eigenständigkeit der Psychotherapie

Mit dem wissenschaftstheoretischen Kriterium wird die «Methodizität» der Psychotherapie untersucht:

«Die Frage, was Wissenschaft ausmacht, lässt sich dahingehend beantworten, dass sich wissenschaftliche Tätigkeit durch einen hohen Grad an Methodizität auszeichnet. Unter ‹Methodizität› verstehe ich die methodologische Reflektiertheit einer Wissenschaft, d. h. die Reflexion einer Wissenschaft auf die eigenen Grundlagen, ihre Grundbegriffe und Leitdifferenzen, die Art und Weise der Erkenntnisgewinnung, der Theoriebildung, der Strukturierung und Darstellung gewonnener Erkenntnisse sowie der Entwicklung von Anwendungsverfahren. Methodizität kann als Abgrenzungskriterium gegenüber anderen Arten von Wissen wie etwa dem Alltagswissen oder dem mythischen Wissen dienen» (Erismann, 2016, S. 7).

Für die Psychotherapie ergibt sich eine eigenständige Wissenschaftlichkeit aus der praktischen Arbeit in der Therapie, in der Subjekt und Objekt nicht wie in rein objektivierenden Wissenschaften, getrennt werden können:

«Eine wichtige Rolle bei der Exploration der Veränderungslogik spielt dabei die Beziehung der Therapeut/innen zu Patient/innen resp. Klient/innen und die Arbeit an deren seelischen Prozessen (z. B. Träumen, Gedanken, Phantasien, Gefühlen und Verhalten). Die Arbeit an diesen seelischen Prozessen ist eng verflochten mit dem Erleben der Therapierenden während der therapeutischen Sitzungen. Dies hängt wiederum mit ihrer Persönlichkeit zusammen. Psychotherapie basiert somit auf einem intersubjektiven Geschehen. Sie erforscht Bewusstsein, Identität und Subjektivität der Patient/innen auf der Grundlage einer affektiven Verbundenheit und einer lebensgeschichtlichen Bezogenheit auf andere Menschen; das Denken in Beziehungen ergänzt das Denken in intrapsychischen Begriffen. Die Untersuchung dieser Beziehung (therapeutische Beziehung), in der Subjekt und Objekt nicht getrennt betrachtet werden können, und die daraus resultierende Theoriebildung ist ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Arbeit und ein Forschungsgegenstand des psychotherapeutischen Fachgebietes. Diese wissenschaftliche Arbeit gestattet, analog etwa zur Arbeit mit unbewussten Anteilen, z. B. Träumen und Phantasiebildungen, keine vom Geschehen losgelöste Objektivität. Objektivierung kommt durch die kritische Reflexion der Therapeut/innen bezüglich des eigenen Erlebens und des Wahrgenommenen durch Bezugnahme auf die Theorie zustande. Dadurch stehen sie in einer unaufhebbaren Dialektik zwischen Begegnung und Objektivierung der Klientel und ihrer selbst.

Damit wird deutlich, dass Psychotherapie einen eigenen methodischen Zugang zu ihrem Forschungsgegenstand hat und sich darin von objektivierenden Disziplinen unterscheidet. Der Einbezug des Subjektiven, wie auch der Ergründung der Veränderungslogik psychischer intentionaler Systeme, ist das wesentlich Eigene der Psychotherapie aus wissenschaftstheoretischer Sicht» (Schweizer Charta für Psychotherapie, 2016).

Wenden wir exemplarisch dieses Kriterium wiederum auf die analytische Psychologie an. Bereits 1935 publizierte Jung die folgende Passage, welche das Hauptresultat heutiger Forschung – dass die therapeutische Beziehung das hauptsächliche Agens der Wirksamkeit ist – vorwegnahm: Er führt aus,

«dass die Psychotherapie nicht eine einfache und eindeutige Methode ist, als welche man sie zuerst verstehen wollte, sondern es hat sich allmählich herausgestellt, dass sie in gewissem Sinne ein dialektisches Verfahren ist, das heißt ein Zwiegespräch oder eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen. […] Eine Person ist ein psychisches System, welches, im Falle der Einwirkung auf eine andere Person, mit anderen psychischen Systemen in Wechselwirkung tritt. Diese vielleicht modernste Formulierung des psychotherapeutischen Verhältnisses von Arzt und Patient hat sich, wie ersichtlich, weit entfernt von der anfänglichen Meinung, dass die Psychotherapie eine Methode sei, die irgend jemand zur Erreichung eines gewollten Effektes in stereotyper Weise anwenden könne. Es sind nicht spekulative Bedürfnisse, welche diese ungeahnte und – ich darf wohl sagen – unwillkommene Erweiterung des Horizontes herbeiführten, sondern die harten Tatsachen der Wirklichkeit» (Jung, 1935, GW 16, §1).

«Der Therapeut ist nicht mehr das handelnde Subjekt, sondern ein Miterlebender eines individuellen Entwicklungsprozesses» (ebd., §7).

Die Trennung der Innen- und der Aussenperspektive

Die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Erlebens, das heisst das Vermögen sich von sich selbst zu distanzieren und sozusagen von aussen wahrnehmen zu können, gehört zur biologischen Grundausstattung des Menschen. Doch auch, wenn die kritische, das heisst relativierende Reflexion ebenfalls zu dieser Grundausstattung gerechnet werden muss, erfordert diese ein zusätzliches Training in einem geeigneten sozialen Umfeld, um sich entfalten zu können. Für die gleichzeitige Bezugnahme auf eine Theorie und deren kritische Infragestellung und Weiterentwicklung braucht es in jedem Fall eine spezielle, kulturelle Schulung.

Am Beispiel des Umganges mit dem Archetypus können diese rekursiven Prozesse gut erläutert werden. Es geht dabei um die Trennung der Innen- und der Aussenperspektive, die verhindert, dass psychische Erfahrungen von der «Welt der Metapher» in die «Welt des Seins» überwechseln. Jung beschreibt diesen Prozess in zwei zusammenhängenden Absätzen (die Benennung der Perspektiven sind vom Autor eingefügt):

Aus Dritt-Person-Perspektive hält er zunächst Folgendes fest:

«Es handelt sich bei diesem Begriff [dem Archetypus, M. S.], wie bekannt, nicht um eine ‹vererbte Vorstellung›, sondern um einen vererbten Modus der psychischen Funktion […], also um ein ‹pattern of behaviour›. Dieser Aspekt des Archetypus ist der biologische.»

Aus Erst-Person-Perspektive fährt er daraufhin wie folgt fort:

«Dieses Bild ändert sich aber sofort gänzlich, wenn es von innen, das heißt im Raume der subjektiven Seele angeschaut wird. Hier erweist sich der Archetypus als numinos, das heißt als ein Erlebnis von fundamentaler Bedeutung. Wenn er sich in entsprechende Symbole kleidet, was nicht immer der Fall ist, dann versetzt er das Subjekt in den Zustand der Ergriffenheit, deren Folgen unabsehbar sein können.»

Zuletzt erfolgt wieder der Wechsel in die Dritt-Person-Perspektive:

«Hierin liegt der Grund, warum der Archetypus für die Religionspsychologie so wichtig ist: alle religiösen beziehungsweise metaphysischen Vorstellungen beruhen auf archetypischen Grundlagen, und insofern wir diese erforschen können, gelingt es uns, wenigstens einen flüchtigen Blick hinter die Kulissen der Weltgeschichte zu werfen, das heißt den Schleier des Geheimnisses über den metaphysischen Ideen und deren Bedeutung um ein weniges zu lüften. Metaphysik nämlich ist eine Physik oder Physiologie des Archetypus, und ihre Dogmata (= Lehrsätze) formulieren die Erkenntnis vom Wesen der Dominanten, das heißt der jeweilig vorherrschenden unbewussten Leitmotive des psychischen Geschehens. Der Archetypus ist ‹metaphysisch›, weil er bewusstseinstranszendent ist» (Jung, 1948, GW 18/2, §1228–1229).

Der erste Abschnitt ist Archetypentheorie, die wissenschaftliche Perspektive bar jeder Emotion. Im zweiten Abschnitt wird aus kritischer Distanz zu sich selbst das eigene Erleben reflektiert und im dritten Abschnitt theoretische Überlegungen zu den Konsequenzen des Erlebens aus Erst-Person-Perspektive für kollektive Phänomene gemacht. (Ausserdem zeigt dieses Zitat, dass Jung Metaphysik und Transzendenz dem Unbewussten zuordnet, und nicht, wie üblich, einem Bereich der über die biologische Existenz hinausgeht.)

Ein Konflikt zwischen der Erst-Person- und der Dritt-Person-Perspektive gehört zum aufgeklärten Menschen. Stets können wir beide Perspektiven einnehmen, zwischen ihnen wechseln und sie in Beziehung bzw. in Kontrast setzen. Kunst und Philosophie zeigen oft dieses Janusgesicht zwischen Wissen (Aussenperspektive) und Glauben (Innenperspektive), in dessen Nähe sich auch die Jung’sche Psychologie bewegt, was – zugegeben – auch einen Teil ihres Charmes ausmacht.

Spiritualität und Psychotherapie

«Im Rahmen der Psychotherapie war für Jung die Berücksichtigung des religiösen Bedürfnisses als eines Grundbedürfnisses des Menschen von großer Wichtigkeit. Dabei ging es ihm nicht um das Dogma, sondern um die religiöse Erfahrung, die er als konstitutiv für Sinnerleben gesehen hat.

Auch wenn Jung immer wieder betont, dass Religion nicht Konfession bedeutet: Die beiden Begriffe sind nah beieinander und können zu Missverständnissen Anlass geben. Es bietet sich heute an, den Ausdruck ‹spirituell› für ‹religiös› im Jung’schen Sinne zu gebrauchen, auch wenn dieser Ausdruck zur Zeit Jungs noch nicht im Gebrauch war. Es geht dabei um eine freiheitliche, offene spirituelle Praxis – eine Beziehung zwischen außen und innen. Es geht um Erfahrungen, die uns emotional tief berühren» (Kast, 2008, S. 67).

Gibt es heute eine Definition der Spiritualität? Selbst Fachleute aus verschiedenen Bereichen, die sich mit Spiritualität befassen, sind sich darüber einig, dass dies eine schwierige Frage ist:

«Eine Begriffsbestimmung von Spiritualität ist gleichzeitig notwendig und schwierig» (Steinmann, 2011, S. 49).

Traditionell hat «Spiritualität» im Sprachgebrauch eine transzendente Dimension, heute gibt es aber auch die Auffassung, dass sie allein durch eine weltliche Sinnhaftigkeit begründet sein kann:

«Obwohl man Spiritualität allgemein als ein Bezogensein auf eine über das unmittelbare Ich und seine Ziele und Bedürfnisse hinausreichende Dimension verstehen kann, besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein wissenschaftlicher (und auch kein weltanschaulicher) Konsens über das genaue Verständnis dieses facettenreichen Begriffs (Koenig 2008). Beispielsweise ist die Frage offen, ob der Bezug auf eine transzendentale Dimension explizit gegeben sein muss[,] um von Spiritualität im engeren Sinne sprechen zu können, oder ob eine das Ich überschreitende, altruistisch-humanistische Wertorientierung ausreichend ist, um von Spiritualität in einem weiteren Sinn sprechen zu können» (Kohls & Walach, 2016, S. 135).

Im Kontext der Psychotherapie kann dies keine Frage sein, weil sie der Aufklärung verpflichtet ist. Sie ist sogar selbst ein aufklärerisches Projekt. Aus dieser Position ist die «das Ich überschreitende, altruistisch-humanistische Wertorientierung» das entscheidende Kriterium, das Spiritualität innerhalb der Psychotherapie ausmacht.

Dies sehen auch PsychotherapeutInnen so, die sich selbst als religiös bezeichnen. Für den jüdischen Psychotherapeuten Gabriel Strenger ist der Begriff «Spiritualität» integrativ. Anlässlich einer Radiosendung zum Erscheinen seines Buches Jüdische Spiritualität beantwortet er die Frage, was Spiritualität sei, wie folgt: «Wenn ich das allgemein sagen darf, gibt es nur universelle Spiritualität, aber es kann nur partikularistische Gefässe der Spiritualität geben» (Strenger, 2016). Er nimmt an, dass das Ziel, spirituell an sich selbst zu arbeiten, um das Gute tun, nur im Kontext der eigenen religiösen Kultur, das heisst einer «Tradition, die auch mit dem kollektiven Unterbewusstsein von Menschen zu tun hat» (ebd.), verwirklicht werden könne. Trotz dieser persönlichen Überzeugung vermischt er die Therapie nicht mit dem Glauben.

Es ist wichtig festzustellen, dass die persönliche Ansicht über Spiritualität auch bei gläubigen TherapeutInnen nicht zu entsprechenden Interventionen in der Behandlung führt, weil sie ihre Rolle nicht im Kontext der Religion wahrnehmen, wie dies bei der Seelsorge der Fall ist. Strenger geht offensichtlich noch einen Schritt weiter. Es geht ihm nicht nur um die Rolle, sondern auch um die theoretische Abgrenzung. Obwohl er sich als religiösen Juden bezeichnet, spricht er von «universeller Spiritualität», die es auch ausserhalb der Religionen gebe:

«Spiritualität bedeutet für mich den Menschen zu seinem wahren Kern zurückzubringen. Das ist für mich auch als Psychologe so wichtig, weil ich in der Psychotherapie genau das mache: Ich versuche, die Schalen, die sich durch Ängste und Komplexe und Traumata gebildet haben, durchzuarbeiten, um zum innersten Kern zu kommen. Insofern ist für mich Psychoanalyse und religiöse Spiritualität etwas sehr Ähnliches» (ebd.).

Strenger geht davon aus, dass es auch in der religiösen Auseinandersetzung darum geht, zum «wahren Kern» zu gelangen, trotzdem sei der psychotherapeutische Prozess etwas anderes. Diese Grenzziehungen sind für wissenschaftlich orientierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten unabdingbar, weil es darum geht, den «innersten Kern» des eigenständigen Individuums nicht zu verletzen, weil nur so die Resilienz nachhaltig gestärkt wird.

Dieselbe Haltung bringt, um noch ein anderes Beispiel anzuführen, auch Nicola Gianinazzi, Psychotherapeut, ehemaliger Ordensbruder und gegenwärtiges Vorstandsmitglied der ASP in einem Interview zum Verhältnis von Glaube und Psychotherapie zum Ausdruck. Er wurde gefragt:

«Sind spirituelle Fragen in Deiner Arbeit häufig Thema, vielleicht: sogar häufiger als bei andern, weil Du auch einen spirituellen Hintergrund hast? Findest Du Spiritualität wichtig für Deine Tätigkeit als Psychotherapeut?»

Hierauf antwortete er wie folgt:

«Das glaube ich nicht, im Gegenteil: Mir scheint, die Dichotomie zwischen Geist und sogenannter Materie werde immer mehr überwunden. Was bedeutet es, einen spirituellen, christlichen, franziskanischen Hintergrund zu haben, wenn nicht, dass man sich auf die Männer und Frauen einlässt, die man im Leben antrifft, oder Neugier für Natur und Wissenschaft entwickelt?

Ich glaube, das ist es, was in mir und in vielen Kollegen steckt; andere mögen den Akzent mehr auf andere Aspekte legen, jeder lebt sie gemäss seinem eigenen, persönlichen Stil, im Kontext seiner eigenen Subjektivität, und wir wissen ja, dass diese in der therapeutischen Beziehung eine wichtige Rolle spielt» (Gianinazzi, 2014).

Diese Aussagen zeigen, dass auch gläubige TherapeutInnen den Glauben nicht in ihre Rolle als PsychotherapeutInnen einfliessen lassen. Hier zeigt sich auch die Vorurteilslosigkeit der wissenschaftlichen Haltung, weil die PatientInnen auch dann unterstützt werden, wenn diese im Rahmen ihrer eigenen Kultur und Glaubensinhalten an sich arbeiten wollen.

«In der Therapie sind die bewährten Grundsätze der Abstinenz, des therapeutischen Rahmens und der Reflexion des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens bewährte Schutzfaktoren. Abstinenz muss in diesem Zusammenhang eben auch Zurückhaltung in weltanschaulichen Fragen heißen, indem ich den Patienten unterstütze, seinen eigenen Weg zu finden. Der therapeutische Rahmen steht für den Verzicht, dem Patienten als spiritueller Lehrer oder Guru gegenüberzutreten, so subtil sich das auch gestalten mag» (Raack, 2016, S. 447).

Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber

Um den eigenen «wahren Kern» zu finden, ist Wahrhaftigkeit eine unbedingte Voraussetzung, nicht nur für die PatientInnen, sondern auch für die TherapeutInnen, sind es doch oft gerade diejenigen Momente im therapeutischen Prozess, in denen sie eingestehen, auch nicht mehr weiter zu wissen, welche die PatientInnen dazu anstossen, die eigenen Ressourcen zu aktivieren. Dies sind dann auch die besonderen Momente in den Therapieprozessen, die sich oft auf diesen Punkt hin entwickeln.

Der Philosoph Thomas Metzinger leitet die Spiritualität aus der Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber ab. Nach ihm zeichnet sich die spirituelle Einstellung dadurch aus,

«dass man die moralische Pflicht anerkennt, sich selbst gegenüber radikal ehrlich zu sein. Eine ganz interessante Frage ist, ob es in Zukunft eine säkulare Spiritualität geben könnte. Das heisst eine Spiritualität, die auf direkter Erfahrung beruht, nicht auf Theorien, nicht auf Begriffen, und die den Tatsachen ins Auge schauen kann, wie den wissenschaftlichen Tatsachen über das Gehirn» (Metzinger, 2011).

Mit seiner Annahme eines Spiritualitätskonzeptes, das auf Erfahrung beruht, und der Anerkennung der Biologie der Seele stimmt Metzinger mit Jung überein:

«Eine der wichtigsten Errungenschaften der analytischen Psychologie, ist ohne Zweifel die Erkenntnis der biologischen Struktur der Seele […], was uns viele Jahre kostete, es zu entdecken» (Jung, 1923, GW 17, §101).

«Der Archetypus ist reine, unverfälschte Natur» (Jung, 1954, GW 8, §412).

In der analytischen Psychologie Jungs entspricht der Weg zum «wahren Kern» dem Individuationsprozess, und die «radikale Ehrlichkeit sich selbst gegenüber» der Methode diesen Weg zu gehen. Den Tatsachen ins Auge zu schauen, geschieht unter anderem auch durch Rückbindung («religio») an die menschliche Natur in der Arbeit mit den archetypischen Bildern, die aus dem Unbewussten im Verlaufe des Therapieprozesses in Träumen oder Phantasien erscheinen. Sie zeigen die biologischen Strukturen der Seele und symbolisieren vor allem die vielen unterschiedlichen zwischenmenschlichen und individuellen Situationen:

«Seine [gemeint ist der Archetypus, M. S.] Numinosität hat häufig mystische Qualität und entsprechende Wirkung auf das Gemüt. Er mobilisiert philosophische und religiöse Anschauungen […] und zieht das Subjekt in seinen Bann, den dieses trotz oft verzweifelter Gegenwehr nicht lösen kann und schließlich nicht mehr lösen will. Letzteres darum nicht, weil das Erlebnis eine bis dahin für unmöglich gehaltene Sinnerfülltheit mit sich bringt» (Jung, 1954, GW 8, §405).

Der Weg der Individuation ist insofern spirituell, als er über das unmittelbare Ich und seine Ziele und Bedürfnisse hinausreicht und mit den Mitmenschen und dem eigenen natürlichen Kern verbindet. Ethik ist dabei ebenso unverzichtbar wie Bedeutung, Sinnfindung und Emanzipation, wenn sich Individuum und Gemeinschaft fruchtbar entwickeln sollen.

Die Jung’sche Psychologie ist keine transpersonale Psychologie

Die Jung’sche Psychologie bewegt sich klar innerhalb wissenschaftlicher Kriterien. Die Beantwortung der Frage, ob sie auch eine transpersonale Psychologie sei, muss demzufolge «nein» lauten. Im Gegenteil: Sie ist der Aufklärung verpflichtet, indem sie sich dadurch auszeichnet, dass sie auch religiöse Symbole als bildlichen Ausdruck psychischer Prozesse darstellt und deren zugrundeliegende biologische Natur aufzeigt. So bezieht sich Jungs Darstellung nie unmittelbar auf «Gott», sondern stets auf «Gottesbilder». Eckhard Frick, Mediziner, Psychoanalytiker, Jesuit und Inhaber des ersten Lehrstuhls für «Spiritual Care» in Deutschland, sagt in seinen Gesprächen mit Bruno Lautenschlager, ebenfalls Jesuit und Psychoanalytiker:

«Ich halte es in der Tat für ein großes Verdienst Jungs, die Hiob-Frage aus einem metaphysischen Ideenhimmel auf den Boden der existenziellen Auseinandersetzung zurückgeholt zu haben» (Frick & Lautenschlager, 2009, S. 28).

Dies sah auch Hans Schär, seinerzeit Theologieprofessor und Religionspsychologe an der Universität Bern, auf gleiche Weise. Für ihn besteht die Bedeutung der Jung’schen Psychologie darin, dass er der existenziellen Auseinandersetzung in der Psychologie durch die «Wirklichkeit des Affiziertwerdens» Raum verschafft habe (vgl. Schär, 1947, S. 12). Es geht um Erfahrungen, die uns emotional tief berühren, wie dies auch im obigen Zitat von Kast zum Ausdruck kommt.

Warum die Jung’sche Psychologie immer wieder dem Esoterikverdacht ausgesetzt ist, mag daher rühren, dass Jung nicht überall in seinen Texten die Unterscheidung zwischen Gott und Gottesbild klar herausstellt:

«Ja, ich habe den Eindruck, dass bei Jung diese Unterscheidung oft in den Hintergrund tritt. Dies ist auch eine Quelle von Missverständnissen. Die Leser, vor allem die kritischen, meinen dann: Jung spricht über Gott und kritisieren sein Verhalten» (Frick & Lautenschlager, 2009, S. 27).

Ich denke, dass die Missverständnisse vor allem darum vorkommen, weil Jungs erkenntnistheoretische Position zu wenig wahrgenommen wird oder nicht erkannt wurde – was wahrscheinlich bei VerteterInnen von metaphysisch-orientierten Richtungen besonders oft der Fall sein dürfte. Erschwerend kommt hinzu, dass Begriffe aus Religion und Glauben in unserer Kultur bereits metaphysisch assoziiert sind und es einer bewussten Anstrengung bedarf, wenn nicht gar ihre Infragestellung, um sie rein psychologisch zu begreifen. Anwürfe von theologischer Seite sind wahrscheinlich so zu verstehen.

Mit folgendem Zitat Jungs wird die Grenze zur transpersonalen Psychologie in aller Schärfe sichtbar:

«[I]nnerhalb des Aufgabenkreises einer wissenschaftlichen Psychologie kann eine als ‹metaphysisch› bezeichnete Vorstellung nur die Bedeutung eines psychischen Phänomens beanspruchen. Ebenso maßt sich die Psychologie keinerlei Kompetenz an, irgend etwas ‹Metaphysisches›, das heißt über ihren Bereich Hinausgehendes, von ihrem Gegenstande auszusagen» (Jung, 1947, GW 18/2, S. 1478).

«Die psychologische Wahrheit schließt eine metaphysische keineswegs aus. Psychologie als Wissenschaft hat sich aber aller metaphysischen Behauptungen zu enthalten. Ihr Gegenstand sind die Psyche und ihre Inhalte» (Jung, 1952b, GW 5, §344).

Während die Jung’sche Psychologie sich explizit nicht mit Metaphysik beschäftigt, ist dies definitionsgemäss die Domäne der transpersonalen Psychologie.

Spiritualität in der wissenschaftlichen Psychotherapie ist säkular

Die säkulare Auffassung von Spiritualität in der wissenschaftlich begründeten Psychotherapie rechtfertigt sich nicht nur aus aufgeklärten, humanistischen Idealen, welche die Autonomie und Emanzipation der PatientInnen schützt. Spiritualität hat ihre Wurzeln in der anthropologischen Konstante des empathischen und altruistischen Verhaltens der Säugetiere und ihren kognitiven Fähigkeiten, insbesondere der Primaten, auf deren Grundlage sich die Menschen und ihre Kultur entwickelt haben. Neue, empirisch gestützte Erkenntnisse aus der Ethologie und evolutionären Anthropologie zeigen, dass es diese Eigenschaften sind, auf denen das spezifisch Menschliche aufbaut (vgl. de Waal, 2011). Es ist die spezifische Art, wie wir Menschen aufeinander bezogen sind, das heisst, unsere

«besondere Form der sozialen Kognition, die es Menschen erlaubt, ihre Artgenossen als ihnen ähnliche Wesen zu verstehen, die ein intentionales und geistiges Leben haben wie sie selbst. Dieses Verständnis ermöglicht es ihnen, sich in die geistige Welt einer anderen Person hineinzuversetzen, so daß sie nicht nur vom anderen, sondern auch durch den anderen lernen können» (Tomasello, 2006, S. 6).

Diese Anpassungsleistung ist geleichzeitig die Basis für unsere spezielle Art von gemeinsamer Intentionalität und Kooperation, die erst menschliche Kultur ermöglichte (vgl. Tomasello, 2014).

Die phylogenetisch uralte Fähigkeit, die Emotion des Gegenübers in uns selbst zu spüren, kombiniert mit der dem Menschen vorbehaltenen Fähigkeit, uns kognitiv und emotional selbst reflektieren zu können, um so von uns auf den anderen zu schliessen, setzt uns in eine komplexe wechselseitige Balance von Wahrnehmung und Projektion, die erst das gegenseitige Verständnis ermöglicht. Aus psychotherapeutischer Sicht (vgl. Schlegel, 2013) entsprechen diese Erkenntnisse der evolutionären Anthropologie der Fähigkeit des «Mentalisierens», einem neuen Konzept, das in der Psychotherapie formuliert wurde. Der wechselseitige Austausch, der dabei stattfindet und meist völlig intuitiv abläuft, bildet auch die Grundlage der ethischen und moralischen Empfindungen, wie Solidarität, soziale Mitverantwortung und Gerechtigkeit, ohne welche die menschliche Form der Kooperation nicht möglich wäre. Es sind die das Ich überschreitenden Eigenschaften, welche die Grundlage unserer Kultur darstellen und die zu einer altruistisch-humanistischen Wertorientierung geführt haben. Diese Art von Spiritualität ist Teil der menschlichen Natur, die selbst wiederum eine ökologische Nische bildet, in der sich Menschen weiterentwickeln und ihre Kultur entfalten können. Es sind dieselben Wertorientierungen, die auch zur Grundausstattung der Religionen gehören.

Dieser Teil der menschlichen Natur, die Bezogenheit auf die Andere bzw. den Anderen, steht im Zentrum der Psychotherapie. Sie gehört zum therapeutischen Prozess, wie das obige Zitat Jungs von 1935 illustriert, in dem er den Therapeuten und die Therapeutin nicht mehr als das handelnde Subjekt beschreibt, sondern als Miterlebende des individuellen Entwicklungsprozesses der PatientInnen.

Konsequenzen einer säkularen Spiritualität

Eine Spiritualität, die sich nicht von einer höheren Instanz herleitet, führt zur unbedingten, nicht übertragbaren Verantwortung dem bzw. der Anderen und der Natur gegenüber. Sie macht das Individuum zu einem Teil des Ganzen. Im Annehmen dieser Selbstverantwortung liegt seine Autonomie und Ethik und Grösse der säkularen Spiritualität. Sie ermöglicht Emanzipation, Sinnfindung und Individuation.

Die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber zeigt aber auch die Abgründe des eigenen Egoismus, der das moralische und ethische Empfinden stark herausfordert. Es obliegt dann der eigenen Verantwortung und der persönlichen kritischen Auseinandersetzung mit eigenen Motiven und kollektiven Normen, ob und welchem Impuls man folgen will.

Auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene führt die Kombination der intersubjektiven menschlichen Fähigkeiten zur humanitären Ethik und der Achtung des Individuums in Form der universellen Menschenrechte. Wenn man den Blickwinkel über die Psychotherapie hinaus erweitert, wird sichtbar, dass wir ohne Spiritualität einer ungewissen Zukunft entgegengehen. Die Naturwissenschaft hat dem Menschen so viel Macht gegeben, dass wir für unsere eigene Lebensgrundlage zu einer Gefahr geworden sind. Ohne den Wert einer Verantwortung gegenüber der Schöpfung und ohne entsprechende Moral und Ethik sind wir kaum in der Lage, die technologischen Instrumente, bis hin zum gezielten Eingriff in das genetische Erbgut zum Wohle aller anzuwenden. Die Macht, selbst Schöpfer zu sein, braucht die Wertmassstäbe einer Spiritualität, sei sie nun säkular oder durch Glauben bedingt.

Heute wird durch den aktuellen politischen Mega­trend des fremdenfeindlichen Populismus sichtbar, dass wir ohne Mitgefühl und Verständnis für die Fremden auf Rückschritt und Chaos zusteuern. Das Gespenst der faschistoiden Tendenzen schaut bereits durch die Fenster in unsere Wohnzimmer, indem populistische Führer die Eigengruppenpräferenz durch Schüren von Ängsten vor den Fremden hochkochen. Es tritt ein bedrohlicher Archetypus hervor, um mit Jung zu sprechen, eine:

«[b]edrohliche[n] Macht, die im Innersten jedes Menschen gebunden liegt und gewissermaßen nur auf das Zauberwort wartet, welches den Bann bricht. Dieses Zauberwort reimt immer auf -ismus …» (Jung, 1954, GW  8, §405).

In diesem Sinne ist der vorliegende Beitrag auch politisch gemeint, denn der Populismus richtet sich gegen die Menschenrechte, weil sie seine Macht einschränken. Wir PsychotherapeutInnen können unseren Beitrag leisten, indem wir dabei mithelfen, unbewusste Projektionen zu entlarven, damit sie nicht in die «Welt des Seins» hin­übertreten.

Ist die transpersonale Psychotherapie ein wissenschaftliches Verfahren?

Die transpersonale Psychotherapie geht von absoluten transzendenten Wirklichkeiten aus:

«Transpersonale Psychologie ist ein Zweig der akademischen Psychologie, der sich der Beziehung zwischen dem Menschen und dem Transzendenten mittels psychologischer Methoden und psychologischer Theorie widmet, wobei er die Existenz des Transzendenten als gegeben voraussetzt.

Begriffe wie ‹das Transzendente› oder ‹die Transzendenz› bzw. ‹das Heilige›, das ‹Numinosum› (nach dem Religionswissenschaftler Rudolf Otto) bezeichnen eine Wirklichkeit, die über unsere materielle Existenz als biologische Wesen in einer physikalisch-stofflichen Welt hinausgeht» (Harnack, 2016).

Nach Kohls und Walach

«kann man spirituelle Erfahrungen als äußere oder innere Erlebnisse bezeichnen, deren Ursprung in der Beziehung zu einer absoluten, transzendenten Wirklichkeit verstanden wird, die aber nicht zwangsläufig im Rahmen eines traditionell religiösen Systems interpretiert werden müssen» (Kohls & Walach, 2011, S. 137).

Entsprechend finden die Therapien in einem «transpersonalen Bewusstseinsraum» statt, in den PatientInnen durch ihre TherapeutInnen, wie im Schamanismus, mittels veränderter Bewusstseinszustände geführt werden. Neben der Tatsache, dass die Beziehung zu einer «absoluten, transzendenten Wirklichkeit» prinzipiell kein wissenschaftlicher Gegenstand sein kann, stellt sich auch eine berufsethische, standesrechtliche Frage, weil die Therapierenden eine zusätzliche zweite Rolle als geistige FührerInnen einnehmen, was die persönliche Abhängigkeit der PatientInnen von ihnen befördert. Unbeeinflusst würden sie vielleicht zu einer ganz anderen Form von Spiritualität finden.

Heutige Wissenschaft ist definitionsgemäss für «eine Wirklichkeit, die über unsere materielle Existenz als biologische Wesen in einer physikalisch-stofflichen Welt hinausgeht» nicht zuständig. So geben Kohls und Walach auch zu, dass es der transpersonalen Psychologie nicht gelungen sei, sich wissenschaftlich zu legitimieren (vgl. Kohls & Walach, 2011, S. 136). Ebenso ist die Etablierung einer eigenen Division in der American Psychological Association (APA) gescheitert (vgl. hierzu Raack, 2016, S. 444).

Aus therapeutischer Sicht wird die Suche nach dem «wahren Kern» im eigenen Inneren und die Entwicklung einer nachhaltigen Resilienz durch transzendente Vorannahmen erschwert, wenn nicht gar behindert. Weil sich die PatientInnen an solchen (stets normativen) Vorstellungen orientieren, statt an den eigenen Gefühlen, stehen sie der radikalen Ehrlichkeit sich selbst gegenüber im Weg. Eine aufgeklärte, humanitäre, vorurteilslose und wissenschaftliche Einstellung der Therapierenden fördert diese spezielle Form von Ehrlichkeit. Techniken, welche die Selbstwahrnehmung der PatientInnen unterstützen, beruhen alle auf dem Prinzip der Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber. In der Psychoanalyse ist es die freie Assoziation, die Arbeit mit Träumen, Phantasien und Imaginationen. Neuerdings werden auch Übung der Achtsamkeit mit Meditationstechniken des Buddhismus, losgelöst von ihrem ideellen Hintergrund, angewendet.

Die Wissenschaft steht im Dienst der allgemeinen Anwendbarkeit von Psychotherapieverfahren im staatlichen Gesundheitswesen

Mit der kritischen wissenschaftstheoretischen Haltung ist kein Urteil über die Sinnhaftigkeit und den Wert von transzendenter Spiritualität gefällt und ebenso keine Verneinung der Heilkraft von spirituellen Praktiken. Die Resultate der Erforschung der salutogenetischen Wirkung von religiösen und spirituellen Praktiken ist wissenschaftlich anerkannt (vgl. Kohls & Walach, 2011, S. 136). Wissenschaftlichkeit der Heilmethode ist keine Voraussetzung für die Heilung in Einzelfällen, wohl aber für die allgemeine Anwendbarkeit im staatlichen Gesundheitswesen. Diese setzt überprüf- und diskutierbare Kriterien der Praxis und Theorie voraus und liefert damit zugleich Garanten einer aufgeklärten Haltung, die das Individuum vor ideellen Übergriffen schützt. Diesen Kriterien muss sich auch der transpersonale Bewusstseinsraum (vgl. Hofmann, 2011 S. 180–183) mit seinen spirituellen Phänomenen (vgl. Kohls & Walach, 2011 S. 138) stellen.

Bezüglich der Wirksamkeit spiritueller Praktiken gibt es wichtige Erkenntnisse aus der Placeboforschung:

«Es gibt Hinweise darauf, dass spirituelle oder ‹Glaubenspraktiken› für ihre neurobiologische Wirksamkeit die physiologische Placeboantwort einbeziehen. […] Placebobehandlungen […] verändern nachweislich das Muster der Gehirnaktivität, insbesondere auch in tie­feren Anteilen wie dem limbischen System. Und vieles mehr. Glaube und positive Erwartungen – gekoppelt an positive Erfahrungen oder Konditionierungen aus der Vergangenheit – sind naturgemäß wichtige Zutaten oder gar Voraussetzungen der Placeboantwort. Jene erfahrungsgetriggerten Placebomechanismen scheinen morphinerge Signalübertragungswege einzubeziehen» (Esch, 2011, S. 31).

Aus der Perspektive der Evolutionsbiologie entspricht die Placeboantwort der Entspannungsantwort (Stress – Relaxation – Response), welche die Stressreaktion kompensiert. Dabei sind wir nicht nur darum auf äusserliche Hilfe oder Aktivität angewiesen, weil wir die Fähigkeit haben, innere Welten zu kreieren, die uns Sicherheit geben und die wir versuchen zu unseren Gunsten zu beeinflussen, wie zum Beispiel Beziehungen zu archetypischen Figuren. Es ist die Erwartung die hilft. Es besteht in diesem Fall aber ein grundsätzlicher Unterschied zu einem Medikament ohne Wirksubstanz, denn das Agens sind die psychischen Inhalte oder Bilder, die in die Konstruktion von Wirklichkeit eingebaut werden und dadurch ihre Wirksamkeit entfalten. Es ist darum essenziell, an welchen Werten sich innere Bilder orientieren.

In der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahren ein professionelles Stressmanagement entwickelt, das die Entspannungsantwort unterstützt:

«Ein wesentlicher Bestandteil fast aller Stressreduktions-Konzepte sind […] Entspannungsverfahren. Hiermit sind Techniken gemeint, welche die sog. Entspannungsantwort (relaxation response), das ist der physiologische Gegenspieler der Stressantwort, auslösen können. Diese Techniken – wie Meditation, autogenes Training, progressive Muskelentspannung etc. – lassen sich meist leicht erlernen und sind gut geeignet, im Rahmen eines praktikablen und alltäglichen Selbstfürsorge-Regimes zum Einsatz zu kommen. Zahlreiche Studien haben darüber hinaus die Wirksamkeit von Entspannungs- und Meditationstechniken bei der Behandlung v. a. stressassoziierter Erkrankungen belegt» (Esch, 2011, S. 28).

In diesem Sinne kann die Wirksamkeit von Methoden, die mit transzendenten Vorannahmen operieren, wissenschaftlich (oder reduktionistisch) erklärt werden. Die transzendenten Inhalte und Praktiken sind aber aus den dargelegten Gründen unwissenschaftlich.

Schlussbetrachtung

Ging es bei der Verfassung dieses Artikels anfänglich nur um stichhaltige Kriterien von Wissenschaftlichkeit und ihre Abgrenzung gegenüber Paradigmen, die sich nicht im Zuständigkeitsbereich der Wissenschaft befinden, wurde im Verlaufe der Auseinandersetzung mit dem Thema sichtbar, dass es im Grunde nicht nur um die Wissenschaft geht, sondern auch um den Prozess der Emanzipation und die Freiheit des Denkens.

Letztlich geht es bei der Psychotherapie nicht nur um die Befreiung von Symptomen, sondern auch um die Stärkung und Aufrechterhaltung der Resilienz, die auch von der Persönlichkeit und dem sozialen Umfeld abhängt (vgl. Barwinski, 2016, S. 64). Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, sind sehr verschieden, befinden sich in unterschiedlichsten inneren und äusseren Lebenssituationen und sind durch ihre Kultur und das soziale Umfeld geprägt. Für viele steht Sicherheit und Geborgenheit vor Emanzipation und Freiheit. Dies darf nicht einfach als Regression interpretiert werden, zumal es Menschen gibt, die die Kraft und den Mut zur Freiheit nicht haben. Dies alles muss in der Psychotherapie berücksichtigt werden. In Therapien mit Menschen aus anderen Kulturen ist dies in erhöhtem Masse erforderlich (vgl. Missmahl, 2006). Der Behandlungserfolg beruht aber immer auf wissenschaftlichen Kenntnissen der funktionalen Zusammenhänge der Psyche. In der Psychotherapie dient die Wissenschaft der Emanzipation, das heisst der Befreiung von dysfunktionalen Mustern, und der Entfaltung des eigenen Potenzials.

Die Einzigartigkeit des Individuums und sein Verhältnis zum Kollektiv steht im Zentrum. In diesem Sinne möchte ich Rudolf Buchmann zu Wort kommen lassen, der die Initialzündung für die Schweizer Charta für Psychotherapie gab und jahrelang an ihrer Weiterentwicklung mitgewirkt hat:

«Psychotherapie – ihre Praxis und ihre Forschung – betont die Einzigartigkeit jedes Menschen und vertritt diesen Zugang zur Erforschung von Menschen und Menschlichem entsprechend den Grundsätzen und Haltungen der Menschenrechtsdeklaration» (Buchmann, 1999).

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Criterions of scientifically established psychotherapy and aspects of emancipated secular spirituality

The criterions for scientifically established psychotherapy, as defined by the Swiss Charta for Psychotherapy, will be applied to the analytical psychology by C. G. Jung as well as the transcendental psychology, based on the epistemologies and scientific theories.

The aim is to provide evidence that C. G. Jung is not one of the transpersonal psychology founders, as proclaimed by its advocates. Jung psychology meets the dictated criteria. Transpersonal psychology on the other side requires a transcendental, metaphysical reality as granting, which expands beyond our material existence as biological beings in a world based on physics. This approach is not based on any scientific approach and lacks evidence.

Beyond this conclusion, it is evident that there is a secular explanation for spirituality. The secular perception of spiri­tuality within the scientifically established psychotherapy justifies itself based on enlightened and humanistic ideals, which protects the autonomy and emancipation of the patients. It is also an anthropological constant, with roots in empathy and mammalian behaviour, especially primate behaviour with their emotional and cognitive abilities.

Keywords: analytical psychology, C. G. Jung, transpersonal psychology, epistemology scientific theories, mentalisation, secular spirituality, placebo answer.

Criteri di una psicoterapia fondata scientificamente e aspetti della sua spiritualità secolare emancipatoria

I criteri di una psicoterapia scientificamente fondata, come viene definita nella Carta svizzera per la psicoterapia, vengono applicati in modo esemplare, in relazione alla teoria della conoscenza e la filosofia della scienza, alla psicologia analitica di C. G. Jung e alla psicologia trascendentale. A proposito si dimostra che C. G. Jung non può appartenere ai fondatori della psicologia transpersonale, come ritenuto dai suoi rappresentanti. La psicologia di Jung soddisfa i criteri sopramenzionati. La psicologia transpersonale per contro presuppone come data una verità trascendentale, metafisica, la quale esula dalla nostra esistenza materiale come essere biologico in un mondo fisico-materiale. Ciò non è sostenibile né dal punto di vista della teoria della conoscenza né dal punto di vista della filosofia della scienza. Da questa constatazione si dimostra inoltre che la spiritualità può essere fondata dal punto di vista secolare. La concezione secolare della spiritualità nella psicoterapia fondata scientificamente non si giustifica solo su ideali umanistici e illuminati che tutelano l’emancipazione e l’autonomia del paziente. Si tratta anche di una costante antropologica, che ha le sue radici nel comportamento empatico e altruistico del mammifero, in particolare dei primati con le loro capacità emozionali e cognitive.

Parole chiave: psicologia analitica, C. G. Jung, psicologia trans­personale, teoria della conoscenza, filosofia della scienza, mentalizzazione, spiritualità secolare, risposta placebo

Der Autor

Mario Schlegel, Dr. sc. nat. ETH, Lehranalytiker, Supervisor, Dozent und Leiter des Forschungskolloquiums am C. G. Jung-Institut Zürich; Vorsitzender der Wissenschaftskommission der Schweizer Charta für Psychotherapie und Co-Präsident des «Internationalen Netzwerkes Forschung und Entwicklung in der Analytischen Psychologie Dreiländergruppe» (INFAP3), Redaktor bei der Zeitschrift Psychotherapie-Wissenschaft und Psychotherapeut ASP in eigener Praxis. Arbeitsschwerpunkt: Dialog zwischen den Therapieschulen und die Biologie der Intersubjektivität.

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mario.schlegel@bluewin.ch