Intersubjektivität und Selbstreflexion

Rosmarie Barwinski

Psychotherapie-Wissenschaft 7 (1) 23–30 2017

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CC BY-NC-ND

Zusammenfassung: Intersubjektivität – verstanden als Fähigkeit zur empathischen Perspektivenübernahme und sozialen Kognition als Grundmodell der sozialen Interaktion – setzt eine spezifische Form des selbstreflexiven Selbstbewusstseins voraus. Um diese Hypothese zu verdeutlichen, wird im vorliegenden Beitrag auf Konzepte von Jean Piaget zurückgegriffen, der Entwicklung als einen Prozess der Bewusstwerdung beschreibt. Dieser beruhe auf der Reflexion eigener Handlungen und Handlungsschemata und ist daher ein Prozess der Selbstreflexion.

Am Beispiel des Integrationsprozesses traumatischer Erfahrungen wird aufgezeigt, wie Antinomien Selbst-Strukturen (von der basalen Selbstbeziehung bis zum selbstreflexiven Selbstbewusstsein) fördern oder blockieren können und damit Entwicklung hemmen bzw. vorantreiben. Abschliessend werden Vorschläge für die Behandlungstechnik gegeben.

Schlüsselwörter: Intersubjektivität, reflektierende Abstraktion, Trauma, Antinomie, Selbstbezug

Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität

Intersubjektivität kann definiert werden als «Stufe der psychischen Struktur, welche die Stadien von Subjektivität und Objektivität durchlaufen hat und diese dialektisch integriert» (Fischer, 2007, S. 594). Intersubjektivität liegt der subjektiven und objektiven Entwicklungsstufe zugrunde, da menschliches Leben von vornherein in einem intersubjektiven Kontext entsteht. Sie «entfaltet sich für die Persönlichkeit jedoch erst schrittweise über Entwicklungskrisen und -konflikte bis hin zum Anderen als objektivem Subjekt (im Rahmen der Beziehungspsychologie) und zum intersubjektiven Selbst (im Rahmen der Selbstpsychologie)» (ebd., S. 594). Intersubjektivität schliesst im Sinne sozialer Kognition als Grundmodell der sozialen Interaktion die wichtigsten Begriffe und Symbole ein. Auf der psychischen Ebene ist die Fähigkeit zur empathischen Perspektivenübernahme Grundbedingung, um sich und andere im sozialen Kontext zu verstehen. Vereinfacht ausgedrückt: Subjektives Erleben und die Wahrnehmung der (objektiven) äusseren Realität müssen auf einer höheren Ebene integriert werden, um die Stufe der Intersubjektivität zu erreichen. In der Psychotherapie ist diese übergeordnete Ebene erlangt, wenn das eigene Verhalten und die eigenen Gefühle kontextbezogen verstanden werden, das heisst auf dem Hintergrund der Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Ich möchte ein Beispiel anführen:

Eine Patientin erzählte mir eine Episode, die sie gerade im Zug erlebt hatte. Sie wollte auf einer Sitzbank Platz nehmen, als ein junger Mann – obwohl er sie gesehen hatte – sich direkt vor ihr auf den angestrebten Platz setzte. Sie drehte sich um, sagte nichts und suchte mit ihren beiden schweren Taschen nach einer anderen Sitzgelegenheit. Kurz darauf berichtete sie mir, dass sie sich schlecht fühle, weil sie so ein böser Mensch sei. Im Verlauf des Gesprächs wurde deutlich, dass sie sich verurteilte, weil sie «so eine Wut auf diesen jungen Mann im Zug gespürt hatte». Sie konnte ihre Wut nicht aus dem Kontext heraus verstehen, sondern sah in ihr einen Beweis für ihren schlechten Charakter. Ein für die Situation adäquates und verständliches Gefühl wurde als Charaktereigenschaft missinterpretiert, weil die Patientin den sozialen Kontext, in dem es entstand – die besonderen Umstände und das Geschehen in der aktuellen Situation –, ausklammerte.

Die Entstehung des primären Selbstbezugs

Intersubjektivität entsteht über die Reflexion eigener Handlungen und Handlungsschemata und ist daher ein Prozess der Selbstreflexion (vgl. Knoll, 2009; Erismann, 2015). Um diese Hypothese verständlich zu machen, soll im Folgenden ausgeführt werden, wie man sich die Entstehung des primären Selbstbezugs vorstellen kann. Ich zitiere im Folgenden den Züricher Philosophen Markus Erismann (2015), der am Beispiel des Neugeborenen sehr nachvollziehbar beschreibt, welche Ausgangslage und welcher Mechanismus dem primären Selbstbezug zugrunde liegt:

«Empfindungen haben ihren Ursprung im Kontrast zwischen Reiz und Reflexschema. Jene Reize, die zwar das Reflexschema aktivieren, aber dennoch zunächst nicht assimilierbar sind, lösen eine Enttäuschung der Assimilationserwartung aus. […] Auf diese ersten Erfahrungen der Negativität, des Kontrasts, der Differenz, findet das Subjekt keine Antwort, denn es verfügt noch über keine Beziehung zu sich selbst und über keine Struktur der Selbstregulation, die es erlauben würde, seine Schemata den Reizen zu akkommodieren. In der Erfahrung des Nichtselbstseins […] erlebt sich das Subjekt in seiner weitgehenden Begrenztheit aufgrund der noch unentwickelten Schemata und zugleich völligen Abhängigkeit von der Außenwelt, welche eine grenzenlose Fürsorge- und Empathie-Erwartung hervorruft. Diese widersprüchliche Situation macht die Notwendigkeit des Subjekts, sich auf sich zurückzuziehen, verständlich. In dieser Bewegung der Zurückwendung auf sich aktiviert es die ihm innewohnende, den Selbstbezug und das Selbstempfinden stiftende Konstruktionsfähigkeit der reflektierenden Abstraktion […]. Die Bewegung des Zurückbeugens auf sich schafft die Voraussetzungen für die Aktivität der reflektierenden Abstraktion, die mit der Bildung des regulativen Schemas eine erste Selbst-Struktur hervorbringt, die es dem Subjekt ermöglicht, sich sowohl auf sich selbst zu beziehen als auch sich von sich selbst zu distanzieren. Diese Selbst-Beziehung ist aber zunächst, da die Sphäre der regulativen Schemata noch mit der Sphäre der Reiz-Reaktions-Zyklen vermengt ist, instabil: Mit der Bildung der selbstregulativen Struktur ergibt sich eine Antinomie, in der das Subjekt zwischen Selbstbezug und Negation dieses Selbstbezugs bzw. zwischen Selbstsein und Nichtselbstsein oszilliert» (Erismann, 2015, S. 32).

Erst die Entmischung der Ebenen und die Loslösung der Selbstregulation von den Reiz-Reaktions-Zyklen mittels reflektierender Abstraktion ermöglichen die Etablierung einer autonomen Selbstbeziehung und mithin die Genese des Selbstempfindens: «Mit der Beseitigung ihrer Entstehungsbedingungen, d. h. der Sphärenvermengung, werden die Antinomie von Selbstsein und Nichtselbstsein und die durch sie ausgelösten Schamempfindungen überwunden und wird die Entfaltung des Selbstempfindens, des Kern-Selbst möglich» (ebd., S. 33). Diese Bewegung, das Pendeln zwischen Selbstsein und Nichtselbstsein, zeigt sich auf allen Entwicklungsstufen ausgehend von der beschriebenen basalen Selbstbeziehung bis zum selbstreflexiven Selbstbewusstsein.

Die negative Selbstbezüglichkeit ist gemäss dem Berner Philosoph Thomas Kesselring zentrale Eigenschaft einer Antinomie, dem Zugleich von Selbstbeziehung und Negation dieser Selbstbeziehung, wodurch eine oszillierende Bewegung zwischen Selbstbeziehung und Negation dieser Selbstbeziehung entsteht. Die «Produktivität der Antinomie» besteht nach Kesselring darin, dass dieser unhaltbare, sich durch ein ständiges Oszillieren auszeichnende Erstarrungszustand überwunden werden muss, indem der der Antinomie zugrunde liegende Gegensatz aufgehoben wird und damit ein Entwicklungsschritt stattfindet.

Antinomien kommen letztlich durch Vermischung verschiedener logischer Ebenen zustande (vgl. Kesselring, 1984). Im angeführten Beispiel ist die Sphäre der regulativen Schemata noch mit der Sphäre der Reiz-Reaktions-Zyklen vermengt. Als intuitive Lösung des Antinomieproblems scheint sich die Differenzierung der verschiedenen Ebenen anzubieten. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen logischen Ebenen wird möglich, indem die Form des eigenen Nachdenkens zum Gegenstand wird. Das Nachdenken über das eigene Denken hat Piaget mit dem Begriff der reflektierenden Abstraktion erfasst. Antinomische Strukturen lassen sich folglich genau dann überwinden, wenn es gelingt, die Fähigkeit der reflektierenden Abstraktion zu reaktivieren. Das heisst auch: Intersubjektivität liegt die Reflexion eigener Handlungen und Handlungsschemata zugrunde. Sie kann damit als ein Prozess der Bewusstwerdung mittels Selbstreflexion verstanden werden.

Selbstgefühl und Entwicklungsniveau

Aus entwicklungspsychologischer Sicht führt Jean Piaget die Wahrnehmung eines «Ich» auf einen Konstruktionsprozess zurück (Piaget, 1972 [1927], S. 108). Die Entwicklung und das Erleben des eigenen Ichs (das heisst das Gefühl, Subjekt zu sein) steht also in enger Beziehung zur kognitiven Struktur.1 Wie Henri Schneider (1981) hervorhebt, geht mit den unterschiedlichen Regulationsstrukturen (entsprechend den kognitiven Stufen von Piaget) ein jeweils anderes Selbstbewusstsein und damit eine andere Form des Selbstbezugs einher. Umgekehrt kann vermutet werden, dass ein bestimmtes Selbstgefühl nur dann möglich ist, wenn die entsprechenden Regulationsstrukturen – die eine Entwicklungsstufe auszeichnen – vorhanden sind.

Auch Gottfried Fischer bringt unterschiedliche Formen, sich seiner bewusst zu sein und über sich zu reflektieren, mit Piagets Entwicklungsbegriffen in Zusammenhang. Er greift die Unterscheidung zwischen den Begriffen Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität auf und ordnet diese den Piaget’schen Stufen zu: «In Begriffen der genetischen Epistemologie entspricht Subjektivität einer überwiegend ‹egozentrischen› Weise von Wahrnehmungen, Denken und Fühlen, Objektivität der überwiegend ‹dezentrierten›, und die Stufe der Intersubjektivität einer überwiegend ‹rezentrierten›, dialektischen Orientierung und Ko-Orientierung» (Fischer, 2007, S. 125). Für Fischer sollten beim Selbstbewusstsein zwei Momente unterschieden werden:

«Im genitivus subjectivus ist es das Bewusstsein, welches das Selbst von sich hat, sein unmittelbares Selbsterleben oder subjektives Selbst, als genitivus objectivus entspricht es dem Bewusstsein, welches das Subjekt von ‹seinem› Selbst besitzt. Ich unterscheide mich von meinem Selbst. […] Die Selbstbeziehung des Menschen umfasst somit ein Moment der Zentrierung wie auch der Dezentrierung» (ebd., S. 126).

Das Selbstbewusstsein ist die Einheit des subjektiven Moments, in dem sich das Subjekt selbst als Einheit erlebt, und des objektiven Moments, in dem sich das Subjekt von sich selbst unterscheidet. An anderer Stelle führt Fischer dazu aus:

«Unser Bewusstsein richtet sich zum einen auf Phänomene der Außen- oder auch der Innenwelt, zum anderen aber auf sich selbst. Selbstbewusstsein ist insofern ein Bewusstsein ‹zweiter Stufe›. Im gleichen psychischen Akt sind wir uns des jeweiligen Gegenstandes unserer Aufmerksamkeit bewusst und unserer selbst als desjenigen, dem dieser Gegenstand gegenübertritt. Unser Selbstbewusstsein hat demnach die beiden Momente: sich auf sich selbst zu beziehen in einem Anderen» (ebd., S. 126).

Stufen des Selbstbezugs

Wie die Negation des Selbstbezugs bei Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität zum Ausdruck kommt, wie das Selbstbewusstsein sich im Verlauf einer Psychotherapie verändert und welche Selbstgefühle mit diesem Veränderungsprozess einhergehen, wird im Folgenden anhand eines Fallbeispiels illustriert. Ich wähle das Beispiel einer durch eine zentrale Bezugsperson schwer traumatisierten Patientin, da bei psychischer Traumatisierung der Selbstbezug in besonders krasser Weise zerstört wird. In der traumatischen Situation kommt es zur Vernichtung des Selbst. Besonders gravierend gestaltet sich die Situation bei Beziehungstraumata.

Fallbeispiel

Eine ca. 30-jährige Frau, ich nenne sie Frau M., war von ihrem Grossvater schwerst sexuell missbraucht worden. Der Grossvater war die wichtigste Bezugsperson der Patientin. Die Mutter hatte sie kurz nach der Geburt bei ihren Eltern abgegeben. Die Grossmutter erkrankte schwer als die Patientin acht Jahre alt war und kam ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nach Hause zurück. Als die Patientin sich bei mir meldete, konnte sie sich nicht mehr an den Missbrauch erinnern. Sie zeigte eine dissoziative Amnesie. Behandlungsgrund waren Alkoholprobleme, Tablettenmissbrauch und soziale Phobien. In der ersten Behandlungsphase ging es darum, ihren Drogenmissbrauch einzuschränken sowie die Gründe für ihr Suchtverhalten zu verstehen.

Ich möchte zwei Sequenzen aus der Behandlung von Frau M. vorstellen, um verständlich zu machen, warum der Selbstbezug auf unterschiedliche Weise misslungen war und wie er wieder hergestellt werden kann (vgl. Barwinski, 2005, 2010, 2016).

Behandlungssequenz 1

Erste Erinnerungen an den Missbrauch kamen bei Frau M. über Albträume, Flashbacks und Panikattacken zurück. In diesen Zuständen hatte Frau M. das Zeitgefühl verloren. Sie konnte nicht realisieren, dass Flashbacks Abbilder traumatischer Erfahrungen sind, sondern sie war in diesen Momenten wieder in der traumatischen Situation. Ich besprach mit ihr, wie sie ihre Wohnsituation verändern könnte, um nicht in den mit den traumatischen Situationen verbundenen Erlebniszustand abzugleiten. Diese Fragen zielten darauf ab, Trigger ausfindig zu machen und diese zu vermeiden. Wenn sie in den Therapiestunden in den «trauma state» abzugleiten drohte, stellte ich Fragen, die sich auf die kognitive Ebene bezogen, und unterbrach sie in ihren Ausführungen, wenn sie in starke Emotionen geriet. Mit diesem Vorgehen sollte der Patientin ein kon­trollierter Umgang mit ihren heftigen Affekten möglich werden, um nicht durch ihre Erinnerungen retraumatisiert zu werden.

Zentral war in dieser Behandlungsphase, dass der Patientin die Unterscheidung zwischen sicherer Gegenwart und traumatischer Vergangenheit möglich wurde. Dieses Vorgehen trug wesentlich dazu bei, dass der Patientin schliesslich die Differenzierung zwischen der Handlungsebene (dem erlebten Missbrauch) und der Ebene der Vorstellung (Flashbacks) gelang. Frau M. konnte realisieren, was der Grossvater ihr angetan hatte und wusste in welchem Alter es geschah, aber sie war nicht mehr in ihrem Erleben in traumatischen Situationen.

Während der Selbstbezug auf der Ebene der Flashbacks nicht vorhanden war, änderte sich dies mit der Unterscheidung zwischen sicherer Gegenwart und traumatischer Vergangenheit. Mit der Ebenentrennung wird Frau M. sich der Bedeutung ihrer Erinnerungen bewusst, das heisst, sie kann sie objektiv als Erinnerungen an den Missbrauch erkennen. Damit hatte sie die Stufe der Subjektivität verlassen und die Ebene der Objektivität (sie konnte die traumatischen Erfahrungen objektiv als Missbrauch erkennen) erreicht: die Repräsentation der Handlung, auf der die zeitliche Einordnung möglich wird.

Behandlungssequenz 2

Mit dem bewussten Realisieren, was der Grossvater ihr angetan hatte, erlebte die Patientin eine – wie sie beschrieb – «überwältigende Wut und mörderischen Hass auf den Grossvater». Diese Wut konnte sie nicht integrieren. In den Gesprächen mit mir zeigte sich eine oszillierende Bewegung: Sie schwankte zwischen Hass und Liebe gegenüber dem Grossvater, zwischen zwei für sie nicht haltbaren Polen. Zum Beispiel berichtete sie einerseits von ihrem Heimweh und wie sie den Grossvater vermisst habe, wenn sie in ein Ferienlager geschickt wurde. Sie idealisierte ihn und warf sich vor, sie habe den Missbrauch provoziert, weil sie Nähe bei ihm gesucht habe. In diesen Momenten fühlte sie sich schlecht und böse. Wenig später äusserte sie: «Er war wirklich ein Egoist. Er nutzte alle aus. Wenn ich an ihn denke, habe ich eine wahnsinnige Wut, die Sie sich gar nicht vorstellen können.» Nach einer kurzen Pause sagte sie: «Er war mein Beschützer. Er lebte nur für mich.» Sie selbst bemerkte die Widersprüche in ihren Aussagen nicht. Sie zeigte eine Spaltung im Selbst: Ein Teil von ihr wusste um das Geschehen, der andere Teil lebte weiter, als wäre der Missbrauch nicht geschehen. Es war ihr nicht möglich, ambivalente Gefühle ihrem Grossvater gegenüber zu erleben. Sie konnte nicht sagen, dass sie den Grossvater für seine Taten hasst, aber ihn trotzdem noch liebt.

Bei genauer Betrachtung der beschriebenen Dynamik wird eine Antinomie, ein negativer Selbstbezug, sichtbar: Frau M. konnte nicht entscheiden, ob für sie der Grossvater ihr Retter oder ein Täter war. Sie zeigte eine oszillierende Bewegung zwischen Hass und auf Idealisierung beruhender Liebe. Ich vermute, dass zu diesem Zeitpunkt in der Therapie die Antinomie zustande kam, weil sie nicht zwischen der Ebene der Repräsentation der Handlung (des Delikts) und der Ebene der psychischen Repräsentanz des Grossvaters – dem inneren Bild, das Frau M. von ihrem Grossvater hatte – unterscheiden konnte. Die Repräsentation der Erfahrung des Missbrauchs, die sich mit ihrer Erinnerung an einzelne Ereignisse zeigte, wurde gleichgesetzt mit der höheren Ebene der psychischen Repräsentanz des Grossvaters. Diese Ebenenvermischung macht auch die beschriebene oszillierende Bewegung verständlich: Der Grossvater wird als Täter erkannt, wenn sie sich an den Missbrauch erinnert, aber im nächsten Moment verehrt, wenn die Repräsentanz des Grossvaters als liebender Beschützer wirksam wird. Wird die Handlung gleichgesetzt mit der Repräsentanz des Täters, muss die Angst vor innerem Beziehungsverlust überwältigend werden.

Die beschriebene Antinomie kann nur aufgelöst werden, wenn die unterschiedlichen Ebenen differenziert werden – wenn die Patientin zwischen ihrem idealisierten Bild des «guten» Grossvaters und ihren traumatischen Erfahrungen unterscheiden kann, das heisst, wenn die Spaltung im Selbst aufgelöst werden kann und damit der Täter als Täter erkannt wird.

Frau M. gelang im späteren Verlauf der Therapie dieser Schritt, nachdem sie erkannt hatte, dass ihr Grossvater einem zustandsabhängigen Wechsel seines Auftretens unterlegen war:

«Es gab für mich zwei Grossväter, den fürsorglichen Grossvater am Tag und den Missbraucher in der Nacht». Und das war neu: Sie erkannte, dass es dazu gekommen war, «weil der Grossvater in sich gespalten war». Sie spürte Wut auf den Grossvater, «dass er nur an sich dachte», erlebte aber nicht mehr die heftigen Affekte, die mit den ersten Erinnerungen an Missbrauchssituationen einhergingen. Sie fühlte sich nicht verlassen, sondern nahm sich als handelnde Person wahr.

Die Repräsentanz des Grossvaters hatte sich mit dieser Erkenntnis verändert. Frau M. konnte emotional erfassen, dass Missbrauch und Liebe nicht vereinbar sind: «Entweder liebt der Grossvater oder er missbraucht, beides kann nicht sein. Wenn er beides vorgibt, ist er in sich gespalten.» Frau M. konnte den Täter objektiv als gespaltene Persönlichkeit wahrnehmen. Damit gelang ihr der Wechsel zu einer höheren Stufe, die sich durch die Auflösung der Spaltung im Selbst auszeichnet. Erst als die Spaltung im Selbst aufgelöst ist und für sie die subjektive Bedeutung der Tat als Verbrechen an ihr erlebbar wird, ist der Selbstbezug möglich geworden. Mit diesem Erkenntnisschritt verändert sich auch die Beziehung zum Täter. Ihr Selbstbewusstsein bezieht sich auf sich selbst in Beziehung zum Täter. Frau M. war damit der Schritt aus der Subjektivität zur Objektivität und schliesslich zur Intersubjektivität gelungen.

Veränderungen des Selbstverhältnisses im Prozess der Traumabearbeitung

Mit den beschriebenen unterschiedlichen Repräsentationsebenen veränderte sich das Selbstverhältnis bzw. geht ein jeweils anderes Selbstbewusstsein einher, was ich im Folgenden anhand der eingeführten Begriffe Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität aufzeigen möchte:

(1.) Die Selbstbeziehung auf der Ebene der Flashbacks ist nicht vorhanden. Frau M. konnte sich via Intrusionen an einzelne Missbrauchssituationen erinnern, aber diese Erinnerungen nicht als eigene Erfahrungen verstehen. Man könnte sagen: Sie war die Handlung.

(2.) Als sie sich der Bedeutung ihrer Erinnerungen bewusst wird, das heisst sie objektiv als Missbrauch erkennen kann (die Repräsentation der Handlung), zerbricht ihr Selbst. Es kommt zu einer Spaltung im Selbst, weil sie die Handlungen des Grossvaters nicht mit ihrem inneren Bild von ihm, seiner Objektrepräsentanz, verbinden kann. Sie konnte den Täter nicht objektiv als Täter wahrnehmen, genauso wenig, wie sie sich objektiv als Opfer erleben konnte. Die Ebene der Repräsentation der Handlung war nicht von der Ebene der Selbst- sowie Objektrepräsentanzen getrennt. Erst mit der Differenzierung der Ebenen gelang ihr dieser Erkenntnisschritt: Erst dann war es für sie möglich, zwischen sich und dem Täter zu unterscheiden, sich als Opfer wahrzunehmen und Mitgefühl für sich aufzubringen.

(3.) Mit der neuen, übergeordneten Ebene geht eine andere Form des Selbstbewusstseins einher: Den Täter objektiv als Täter zu erkennen, führte dazu, dass sie sich ihrer selbst bewusst wird als derjenigen, der der Missbrauch durch den Täter widerfahren war. Ihr Selbstbewusstsein bezieht sich auf sich selbst in Beziehung zu einem Anderen, dem Täter.

Die Selbstbewusstwerdung der Patientin kann somit als dreistufiger Vorgang zusammengefasst werden: In der traumatischen Situation kam es zur Zerstörung des Selbst. Der Selbstbezug ist in der Folge auch bei Flashbacks nicht vorhanden. Man könnte sagen, dass die Negation der Subjektivität die Auslöschung des Selbst bedeutet.

Eine Veränderung ihres Selbstbewusstseins zeigte sich, als Frau M. den Täter objektiv als Täter erkennt. Zuerst kann sie diese Erkenntnis nicht ertragen. Die Negation der Objektivität zeigt sich in Form einer Spaltung im Selbst. Ein Teil von ihr verleugnet die Tat und weist damit die Wahrnehmung der Realität zurück.

Erst als die Spaltung im Selbst aufgelöst ist und für sie die subjektive Bedeutung der Tat als Verbrechen an ihr erlebbar wird, ist ein neues Selbstbewusstsein möglich geworden. Mit diesem Erkenntnisschritt verändert sich auch ihre Haltung zum Täter. Ihr Selbstbewusstsein bezieht sich auf sich selbst in Beziehung zum Täter. Der Schritt zum intersubjektiven Selbst war ihr damit möglich geworden.

Selbstgefühl, Antinomie und kognitive Stufen

Wie erwähnt, kann das Selbstgefühl eines bestimmten Entwicklungsniveaus erst dann erlebt werden, wenn das Subjekt über die zugrunde liegende Regulationsstruktur verfügt. Das heisst, dass sich in der Beschreibung des Selbsterlebens von Frau M. auch die unterschiedlichen Stufen der kognitiven Entwicklung von Piaget zeigen müssten. Einher geht dieser Prozess mit einer zunehmenden Subjekt-Objekt-Differenzierung, wie dies im Vergleich der beiden Fallvignetten mit der Beschreibung der zunehmenden Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Selbst- und Täteranteilen zum Ausdruck kommt. Im Folgenden versuche ich die Antinomien sowie deren Auflösung aufzuzeigen, ordne diese den Piaget’schen Entwicklungsstufen zu und beschreibe die mit diesem Prozess einhergehende Veränderung des Selbstgefühls.

Zu Beginn der Behandlung zeigt sich – in Bezug auf die traumatischen Erfahrungen – ein Selbstgefühl, das über die Handlung mit dem Gegenüber verknüpft zu sein scheint, wie es für die sensomotorische oder eine frühe Stufe des präoperativen Denkens typisch ist. Die Antinomie entsteht, weil die Ebene der Handlung nicht von der Ebene der Vorstellung unterschieden wird. Eine übergeordnete Ebene wird erst möglich, als die Patientin erkennt, dass Bilder traumatischer Ereignisse nur in ihr sind und nicht äusseren Geschehnissen entsprechen.

Auf der Ebene der Repräsentation der Handlung ist dadurch der Selbstbezug möglich geworden. Die subjektive Bedeutung der traumatischen Erfahrung als Verknüpfung zwischen ihren objektiven Elementen (wo der Missbrauch stattgefunden hatte und wer ihn begangen hat) und ihren subjektiven Elementen (die mit dieser Erkenntnis einhergehenden Gefühle) ist erlebbar geworden.

Durch die Entmischung der Ebene der Handlung und der Ebene der Repräsentanzen wird in der Folge die Objektrepräsentanz des «guten Grossvaters» infrage gestellt. Aufgrund der Angst vor innerem Objektverlust führt das Erkennen des Missbrauchs dann zu einer Regressionsbewegung und, damit einhergehend, einer Spaltung im Selbst. Man könnte sagen, dass Frau M. zurück auf eine frühe Stufe des präoperativen Denkens regrediert. Für sie gibt es den Grossvater nur verbunden mit bestimmten Handlungen: den Tag-Grossvater und den Nacht-Grossvater (das Schema des «permanenten Gegenstandes» scheint kurzfristig verloren gegangen zu sein). Die Selbst-Objekt-Differenzierung, die Unterscheidung zwischen sich und dem Täter, ist ihr nicht mehr möglich. Entsprechend der egozentrischen Sicht des Kindes der präoperationalen Phase gab sie sich die Schuld am Missbrauch: Sie war das böse Kind, das den Grossvater zu Missbrauch verführt hatte; ein gutes Kind hätte er nicht missbraucht.

Die übergeordnete Ebene zeigte sich als sie die gespaltene Persönlichkeit des Grossvaters erkannte und gleichzeitig ihren Wunsch spürte, dass der Grossvater doch ein «guter Papa» für sie gewesen sei. Damit konnte sie zwischen dem inneren Bild (der «guten» Objektrepräsentanz) des Grossvaters und dessen Handlungen in der Realität unterscheiden. Und sie erkannte, dass sie sich die Schuld am Missbrauch gab, um die für sie lange Zeit psychisch überlebenswichtige Vorstellung des «guten Grossvaters» zu schützen.

Die Patientin kann sich objektiv als Opfer und den Täter objektiv als Täter wahrnehmen und damit die Spaltung im Selbst auflösen. So wird der Übergang zur nächsthöheren Stufe möglich: Wenn sich ihr Selbstgefühl auf sich selbst in Beziehung zu einem Anderen – dem Täter – bezieht, ist eine neue Bewusstseinsebene erreicht, wie sie der Stufe der konkreten Operationen oder einer frühen Phase der formalen Operationen zugeordnet werden kann.

Antinomien bei der Traumaverarbeitung und erste technische Implikationen

Im Fallbeispiel konnten zwei antinomische Strukturen herausgearbeitet werden, die wesentlichen Erkenntnissen im Therapieverlauf vorausgingen: Eine erste Antinomie zeigte sich als Vermischung zwischen der Ebene der Handlung und der Ebene der Vorstellung. Die Patientin konnte nicht unterscheiden zwischen der Aktualität, in der sie sicher war, und dem Erleben in traumatischen Situationen. Sie konnte ihre Flashbacks nicht als Bilder vergangener Erfahrungen erkennen, sondern «war» wieder im traumatischen Geschehen.

Der Behandlungsprozess bei Frau M. stagnierte ein weiteres Mal als eine zweite Antinomie die Patientin in einen für sie nicht lösbaren Widerspruch brachte: die Vermischung der Ebene der Repräsentation der Handlung mit der Ebene der Objektrepräsentanz. Das Bild des «guten Grossvaters» infrage zu stellen führte zur Angst vor innerem Objektverlust, der Angst, jeglichen inneren Halt durch die Zerstörung des «guten» inneren Bildes der einst zentralen Bezugsperson zu verlieren.

Wie können die beschriebenen Antinomien aufgelöst werden? Welche technischen Implikationen ergeben sich aufgrund der geschilderten Ausgangslagen? Mögliche Vorgehensweisen fasse ich im folgenden Schema zusammen und erläutere sie anschliessend.

Antinomie I: Vermischung der Ebene der Handlung mit der Ebene der Vorstellung

Ebene 1: Ebene der Handlung

Aufgabe in der Behandlung: zeitliche und räumliche Orientierung

Ebene 2: Ebene der Vorstellung (das Trauma wird nicht mehr in der Aussenwelt, aber in der psychischen Innenwelt als Flashback erlebt)

Aufgabe in der Behandlung: Abstand zu den mit dem Trauma verknüpften Gefühlen und Bilder

Ebene 3 (übergeordnete Ebene): Repräsentation der Handlung

Zeitliche und räumliche Orientierung

Wenn nicht zwischen Handlung und Vorstellung unterschieden werden kann, befinden wir uns im Übergang von der sensomotorischen zur präoperationalen Phase. Wie an anderer Stelle ausgeführt (vgl. Barwinski, 2016), ist für die Wahl der Interventionsebene die Stufe des gestörten Persönlichkeitsbereichs des Patienten zentral. Beim Übergang von der sensomotorischen zur präoperationalen Phase muss dementsprechend der Handlungsaspekt im Vordergrund stehen, um den Selbstbezug herzustellen.

Auf den Traumaintegrationsprozess übertragen, heisst dies, dass Interventionen in Form von Handlungsanleitungen gegeben werden sollten, wie zum Beispiel räumlichen Abstand zu traumareaktivierenden Situationen einzunehmen. Ziel ist bei einer solchen antinomischen Konstellation, dass das Zeitgefühl wiederhergestellt werden kann und eine örtliche Orientierung möglich wird. Dies ist in der Regel mittels Interventionen möglich, die auf allen Sinneskanälen (auditiv, olfaktorisch, taktil, visuell) den Patienten wieder ins Hier und Jetzt zurückholen – wie zum Beispiel den Patienten laut mit Namen (oder einem anderen Namen) anzusprechen, ihn aufzufordern, die Füsse fest auf den Boden zu stellen oder Dinge zu nennen, die er im Raum sieht.

Abstand zu den mit dem Trauma verknüpften Gefühlen und Bildern

Zentral ist in dieser Behandlungsphase, dass Traumaopfer sich von ihren beängstigenden Bildern und heftigen Gefühlen distanzieren können. Einer jungen Patientin, die immer wieder mit Panikattacken zu kämpfen hatte oder stark dissoziierte, half zum Beispiel in diesen Momenten Sudoku zu spielen (ein Spiel, in dem Kopfrechnen gefordert wird). Dann konzentrierte sie sich ganz auf die Rechenaufgabe und fand Abstand zu ihren heftigen Affekten.

Erst wenn ein dosierter Umgang mit Affekten möglich geworden ist, wird der für die Traumaverarbeitung notwendige Abstraktionsprozess der Repräsentation der Handlung möglich, das heisst, auf das vorangehende Beispiel bezogen, dass der Täter objektiv als Täter erkannt werden kann.

Antinomie II: Vermischung der Ebene der Repräsentation der Handlung mit der Ebene der Objektrepräsentanz

Ebene 1: Ebene der Repräsentation der Handlung

Aufgabe in der Behandlung: Auflösung der Verschmelzung mit dem Täter

Ebene 2: Ebene der Objektrepräsentanz (Bild des «guten» Täters)

Aufgabe in der Behandlung: Fähigkeit zur «Objektanalyse»

Ebene 3 (übergeordnete Ebene): Selbsterlebens in Beziehung zu einem vom Selbst getrennten Objekt

Verstehen der subjektiven Bedeutung der traumatischen Erfahrung

Die subjektive Bedeutung der traumatischen Erfahrung zu erfassen beinhaltet, den Täter objektiv als Täter zu erkennen und damit das eigene Opfersein zu realisieren. Mit diesem Erkenntnisschritt geht ein anderes Selbstbewusstsein einher. Die Tat wird zum Delikt, das aufgrund der eigenen Lebensgeschichte eine subjektive Bedeutung vom Opfer erhält. Um diesen Erkenntnisschritt leisten zu können, muss die Verschmelzung mit dem Täter aufgelöst sein (vgl. Holderegger, 2016). Was damit gemeint ist, möchte ich kurz am Beispiel von Frau. M. erläutern:

Frau M. erwähnt in der Behandlungsphase, aus der die zweitaufgeführte Fallvignette stammt, dass sie sich schmutzig und abstossend fühle. Wie im Verlauf des Gesprächs deutlich wurde, hatte sie sich als Kind vor dem Schmutz in der Wohnung und dem Körper des Täters geekelt. Sie schrieb sich also Eigenschaften zu, die der Täter hatte. Sie konnte nicht zwischen sich und dem Täter unterscheiden. Sie zeigte damit eine partielle Verschmelzung mit dem Täter.

Irrationalen Selbstvorwürfen von Opfern liegt häufig eine mangelnde Differenzierung zwischen sich und dem Täter zugrunde. Frau M. hatte sich zum Beispiel vorgeworfen, dass sie sexuell missbraucht wurde, weil sie Fürsorge beim Grossvater gesucht habe. Diese Selbstvorwürfe sollten in der Behandlung korrigiert werden, um die Verschmelzung mit dem Täter aufzulösen und damit die subjektive Bedeutung der Tat erfassen zu können.

Fähigkeit zur Objektanalyse

Die Vermischung der Ebene der Repräsentation der Handlung mit der Ebene der Objektrepräsentanz geht bei Beziehungstraumata immer mit der Angst einher, jeglichen inneren Halt durch die Zerstörung der «guten» Objektrepräsentanz zu verlieren.

Ein Lösungsschritt zeigte sich zum Beispiel bei Frau M., nachdem sie realisierte, dass sie ambivalente Gefühle dem Grossvater gegenüber hatte. Frau M. hatte damit die Spaltung im Selbst aufgelöst und konnte ihre Gefühle gegenüber dem Grossvater als widersprüchlich erkennen. Dieser Entwicklungsschritt kann mittels der Fähigkeit zur Objektanalyse gefördert werden. Damit ist gemeint, dass bewusst die Persönlichkeit des Täters in der Therapie «analysiert» wird, um den Täter objektiv als Täter zu erkennen. Mit der Fähigkeit der Objektanalyse kann unterschieden werden, ob man mit einem einheitlichen Anderen konfrontiert ist, der beide Erscheinungsweisen, die positive und die negative, koordiniert, oder mit einer gespaltenen Persönlichkeit, der ihre doppelte Erscheinungsform unbewusst ist. Die Objektspaltung wird damit nicht mehr auf eine Selbstspaltung reduziert.

Um diesen Erkenntnisschritt beim Patienten zu fördern, geht es in einem ersten Schritt darum, die widersprüchlichen Gefühle des Patienten gegenüber dem Täter aufzuzeigen.

In einem zweiten Schritt werden beide Gefühle als berechtigt begründet: Für die Tat muss der Patient den Täter hassen, für schöne Momente hat er ihn geliebt, wie ein Kind seine Eltern liebt. Beides darf sein und ein Gefühl schliesst das andere nicht aus.

Im dritten Schritt werden die Konsequenzen der Gespaltenheit des Täters für die Opfer aufgezeigt. Wenn eine Bezugsperson gespalten ist, dann kann ein Kind Liebe und Hass nicht mit dieser einen Person verbinden. Es ist ihm nicht möglich, diese widersprüchlichen Seiten einem Menschen zuzuschreiben. Diese Erfahrung steht im Widerspruch zum natürlichen Bedürfnis jedes Menschen, einen anderen Menschen als einheitlich zu erleben und zu betrachten.

Eine solche Intervention hat in der Regel eine entlastende Wirkung, weil sich die Opfer dann nicht mehr für ihre Sehnsucht nach Liebe schämen müssen und gleichzeitig ihre berechtigte Wut spüren und zum Ausdruck bringen können.

Fazit

Intersubjektivität entsteht über reflektierende Abstraktion – die Reflexion eigener Handlungen und Handlungsschemata – und ist damit ein Prozess der Bewusstwerdung mittels Selbstreflexion. Dieser Prozess kann blockiert sein, wenn Antinomien die Entwicklung neuer, übergeordneter Selbst-Strukturen (von der basalen Selbstbeziehung bis zum selbstreflexiven Selbstbewusstsein) verhindern.

Antinomien kommen durch Vermischung verschiedener logischer Ebenen zustande. Als Lösung des Antinomieproblems wird die Differenzierung der verschiedenen Ebenen vorgeschlagen. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen logischen Ebenen wird möglich, indem die Form des eigenen Nachdenkens zum Gegenstand wird. Antinomische Strukturen lassen sich genau dann überwinden, wenn es gelingt, die Fähigkeit der reflektierenden Abstraktion zu reaktivieren. Wie dies konkret möglich wird, habe ich am Beispiel des Integrationsprozesses traumatischer Erfahrungen gezeigt:

In einem ersten Schritt geht es darum, die Stufe zu bestimmen, auf der eine Antinomie die Entwicklung blockiert. Die ausgewählte Stufe bestimmt nachfolgend die Wahl der Interventionsebene. Beim Übergang von der Handlung (Delikt) zur Vorstellung (Flashback) sollte zum Beispiel der Handlungsaspekt im Vordergrund stehen, um den Selbstbezug herzustellen. Das heisst Interventionen sollten in Form von Handlungsanleitungen gegeben werden, wie zum Beispiel räumlichen Abstand zu traumareaktivierenden Situationen einzunehmen und Reorientierung im Hier und Jetzt.

Geht es dagegen um den Widerspruch zwischen der Repräsentation der Handlung und der Repräsentanz der traumatisierenden Bezugsfigur, dann sind Interventionen wirksam, die sich auf psychische Mechanismen (wie zum Beispiel die Spaltung in «nur gut» und «nur böse») beziehen.

Abschliessend bleibt festzuhalten, dass mithilfe der Differenzierung von unterschiedlichen Repräsentationsebenen (vgl. hierzu Barwinski, 2016) und mit der beschriebenen Transformationslogik ein Ansatz vorliegt, der schulenübergreifend beschreibt, wie konstruktive Veränderung in der Psychotherapie gefördert werden kann. Angesichts der Vielzahl psychotherapeutischer Modelle, deren Grundannahmen nicht geklärt sind, ermöglicht der Bezug zu philosophischen und entwicklungspsychologischen Konzepten eine gemeinsame Basis, die als ein erster Schritt in Richtung eines Paradigmas für Psychotherapie(wissenschaft) verstanden werden kann.

Literatur

Barwinski [Fäh], R. (2005). Traumabearbeitung in psychoanalytischen Langzeitbehandlungen. Einzelfallstudie und Fallvergleich auf der Grundlage psychotraumatologischer Konzepte und Modelle. Kröning: Asanger.

Barwinski, R. (2010). Die erinnerte Wirklichkeit. Zur Bedeutung von Erinnerungen im Prozess der Traumaverarbeitung. Kröning: Asanger.

Barwinski, R. (2016). Resilienz in der Psychotherapie. Klett-Cotta: Stuttgart.

Erismann, M. (2015). Die Antinomie der Scham. Eine Analyse des Scham-Selbst-Verhältnisses. Kröning: Asanger.

Fischer, G. (2007). Kausale Psychotherapie. Kröning: Asanger.

Holderegger, H. (2016). Der Umgang mit dem Trauma (4. Auflage). Asanger: Krönung.

Kesselring, T. (1984). Die Produktivität der Antinomie. Hegels Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Schneider, H. (1981). Die Theorie Piagets: ein Paradigma für die Psychoanalyse? Bern: Huber.

Intersubjectivity and Self-reflection

Intersubjectivity – the ability to adapt perception via empathy and social cognition as a basic model of social interaction – requires self-reflection. To further illustrate this hypothesis, this paper will fall back on concepts by Jean Piaget, which describe development as a process of ideational realisation. Those operations are based on the reflection of the own contemplation processes as well as action schemas and therefore are a process of self-reflection. The process of integrating traumatic experiences serves as an example how the different internal mechanisms (from the primary self-relation to the process of self-reflection) can promote or hinder development. Treatment techniques will be provided at the end.

Keywords: intersubjectivity, self-reflection, trauma, contradiction, self-relation

Intersoggettività e autoriflessione

L’intersoggettività – come capacità di assunzione delle prospettive e cognizione sociale come modello di base dell’interazione sociale – presuppone una forma specifica di coscienza di sé autoriflessiva. Per chiarire tale ipotesi, si ricorre in questo articolo ai concetti di Jean Piaget, il quale descrive lo sviluppo come un processo di presa di coscienza di sé. Ciò si basa sulla riflessione delle proprie azioni e dei propri schemi di azione ed è quindi un processo di autoriflessione.

Come riferimento al processo d’integrazione di esperienze traumatiche viene mostrato come antonimie (dall’autorelazione basale fino alla coscienza di sé autoriflessiva) possano favorire o bloccare le strutture del sé e quindi ostacolare o accelerare lo sviluppo. Infine vengono forniti suggerimenti relativi alla tecnica di trattamento.

Parole chiave: Intersoggettività, astrazione riflessiva, trauma, antinomia, autoriferimento

Die Autorin

Rosmarie Barwinski, PD Dr. phil., Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin SPV/FSP; Privatdozentin an der Universität zu Köln; Supervisorin am Psychoanalytischen Seminar in Zürich; Leiterin des Schweizer Instituts für Psychotraumatologie (SIPT) mit Sitz in Winterthur (www.psychotraumatologie-sipt.ch); zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Psychotraumatologie und Psychotherapie-Prozessforschung.

Kontakt

Schweizer Institut für Psychotraumatologie (SIPT)

Prof. Dr. phil. Rosmarie Barwinski

Neuwiesenstrasse 95

8400 Winterthur

r.barwinski@swissonline.ch

Anmerkungen

1 Piaget hat die kognitive Entwicklung in vier Stufen unterteilt. In der ersten Stufe, der «sensomotorischen Stufe» (bis ca. 1½ Jahre), manifestiert sich die Intelligenz in der direkten, zunehmend komplexer werdenden Koordination zwischen den Sinnen und der körperlichen Motorik, den verschiedenen Sinneswahrnehmungen (Tasten, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Gleichgewichtssinn) sowie den Körperbewegungen untereinander (das Kind lernt u. a. aufrecht gehen). Die Welt, wie sie vom Kind erlebt wird, und die Beziehung zu den nahen Bezugspersonen werden vor allem durch die konkreten Handlungen geprägt.

In der zweiten Stufe des «präoperativen Denkens» (ca. 1½ bis 6–8 Jahre) entwickeln sich die sensomotorischen Koordinationen weiter. Entscheidend ist aber das Auftreten neuer Typen von kognitiven Funktionen im Alter von ca. 18 Monaten – der Vorstellungstätigkeit einerseits, der Symbolfunktion andererseits. Im Gegensatz zur sensomotorischen Stufe kann das Kind nun denken, während das Baby nur handeln konnte. Es schreibt sich nun, so wie diesen, einen materiellen Körper zu, und es entdeckt auch seine Emotionen und Vorstellungen. Es beginnt sich zunehmend als eigene Person zu erfassen.

In der dritten Stufe der «konkreten Operationen» (ca. 6–8 bis 11–12 Jahre) konsolidiert sich ein konsequentes, logisches Denken. Das Kind wird zunehmend fähig, die Logik von Klassen und Beziehungen zu verstehen, und entwirft erste Strategien zur Lösung von Problemen. Es lernt schreiben und wird sich in diesem Zusammenhang des Unterschieds zwischen Zeichen und Bedeutung bewusst.

Erst in der vierten Stufe der «formalen Operationen» (ab ca. 11–12 Jahre bis Jugendalter) baut sich die Fähigkeit zu Operationen zweiter Ordnung auf (z. B. die Kombinatorik, die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, die Differential- und die Integralrechnung). Das Denken wird hypothetisch-deduktiv. Mentales Testen von Hypothesen wird möglich und damit verliert die konkrete Be­obachtung von äußeren Objekten an Bedeutung.