Intersubjektivität und das Konzept des leiblich Unbewussten

Eine phänomenologische Betrachtung

Manfred Sauer & Sabine Emmerich

Psychotherapie-Wissenschaft 7 (1) 15–20 2017

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CC BY-NC-ND

Zusammenfassung: Durch Krankheiten oder Unfälle stürzen Betroffene oft in existenzielle Krisen, sodass sie neben ärztlicher Hilfe auch Psychotherapie benötigen. Für diese PatientenInnen wurde das Modell einer ärztlich-psychotherapeutischen Kooperation entwickelt, in dem PatientInnen, Angehörige und alle Professionals (in Pflege und Therapie) gleichermassen in die Therapieplanung einbezogen sind. Hinzu kommt, dass wir das Behandlungsteam als «narratives Team» verstehen. Im Zentrum der Therapieplanung und der Teamarbeit steht die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt.

Aus den Erfahrungen in der Behandlung von IntensivpatientenInnen und anderen durch Krankheit oder Unfall verursachten existenziellen Grenzsituationen hat sich die Notwendigkeit der Konzeption eines leiblich Unbewussten als evident erwiesen. Für die Gestaltung einer therapeutisch hilfreichen Umwelt ist die Qualität der Intersubjektivität von entscheidender Bedeutung.

Schlüsselwörter: ärztlich-psychotherapeutische Kooperation, leiblich Unbewusstes, narrative Team-Arbeit, Intersubjek­tivität, therapeutisch hilfreiche Umwelt

Vorbemerkung1

In einer ärztlich-psychotherapeutischen Therapieplanung für chronisch neurologisch Kranke und Intensivpatienten (vgl. Emmerich & Sauer, 2003) hat sich die Notwendigkeit der Konzeption eines leiblich Unbewussten als evident erwiesen. In dieser Konzeption spielt die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt als Einheit des Überlebens die zentrale Rolle: «Beziehung im Kontext der Organismus Umweltbeziehung kann weder aufgebaut noch hergestellt, sondern nur als eine ursprüngliche basale Erfahrung erlebt werden. Dieses Erleben ist unmittelbar leiblich wie in der Zeit unserer vorgeburtlichen Existenz» (Sauer & Emmerich, 2016, S. 20).

In unserem Behandlungsmodell haben wir drei ergänzende Interaktionsmodi für die Gestaltung der Beziehung eingeführt, um die Bedürfnisse des leiblich Unbewussten in existenziellen Grenzsituationen mit der Subjekt-Objekt-Beziehung passend in Einklang zu bringen:

«Patienten, die Angehörigen und alle Professionals (in Pflege und Therapie) werden gleichermaßen in die Therapieplanung einbezogen. Hinzu kommt, dass wir das Behandlungsteam als ‹narratives Team› verstehen. Narrativ bedeutet hier, dass im Verlaufe eines kontinuierlichen kommunikativen Prozesses eine ‹narrative Gestalt› entsteht, die eine erinnernde Wiederaneignung von Lebensgeschichte und den Aufbau einer als sinnvoll erlebten Kontinuität ermöglicht» (Sauer & Emmerich, 2017, S. 35).

Das Phänomen der Intersubjektivität steht dabei nach unserem Verständnis in einem engen Zusammenhang mit Vulnerabilität und Resilienz als ihrem Pendant.

Vom Ursprung des leiblich Unbewussten

Der Ursprung des leiblich Unbewussten reicht zurück an den Anfang unserer individuellen menschlichen Existenz. Dieser Anfang ist ein Beziehungsakt, der sich in einer fortlaufenden Geschichte der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt fortsetzt. Für jeden Schritt von einer einfachen zu einer komplexeren Stufe benötigt die Entwicklung der Organismus-Umwelt-Beziehung (O-U-B) eine Halt und Sicherheit gebende Umgebung. Sie ist zu Anfang in aller Regel durch den Schutz des mütterlichen Organismus und speziell durch die Gebärmutter gewährleistet.

Für die Entwicklungsgeschichte des leiblich Unbewussten besitzt die pränatale Organismus-Umwelt-Beziehung als Einheit des Überlebens Modellcharakter. In ihrem Verlauf ist der durch sie gewährte Schutz durch extreme Belastungen, wie zum Beispiel durch Krankheit und Unfälle, aber auch durch Krieg, Flucht und Vertreibung, gefährdet – oft mit lebenslangen Folgen für das betroffene Individuum.

Eine erste Belastungs- und Bewährungsprobe für diese Einheit ist die Geburt. Für eine gesunde Entwicklung kommt es jetzt auf die Gestaltung einer passenden Subjekt-Objekt-Beziehung (S-O-B) an, welche auf der Organismus-Umwelt-Beziehung des Neugeborenen aufbaut und sie komplementär ergänzt.

Geburt als Prototyp eines affektiven Aktes

Pränatal entstehen, wie wir beschrieben haben, leibliche Umwelten, aus denen der Fetus seine subjektive Welt aufbaut. Im Kontext einer normalen Schwangerschaft gewährt sie für die vegetativen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Halt und Sicherheit die Empfindung einer vollendeten Ganzheit. Mit der Situation der Geburt beginnt durch den Verlust der «harmonischen Verschränkung», wie Balint unsere intrauterine Lebensform beschrieben hat, die spezifisch menschliche Psychodynamik der Intersubjektivität.

Pränatal ist die Organisationsform des leiblich Unbewussten im Wesentlichen auf die vegetativen sowie die spinalen (Rückenmark) und cranialen (Hirnstamm) segmentalen Systeme für die Gestaltung der O-U-B begrenzt. Mit der Geburt öffnet sich durch die Organisationsform der kortikalen, subkortikalen (Grosshirn) und cerebellären (Kleinhirn) Systeme der kindliche Organismus für eine sein leiblich Unbewusstes ergänzende Um- und Mitwelt.

Wir sprechen jetzt von der erweiterten Form einer S-O-B, als deren elementarer Bestandteil die O-U-B, also das leiblich Unbewusste, lebenslang als Einheit des Überlebens erhalten bleibt.

Auf der Ebene der O-U-B erfolgt die Gestaltung der Beziehung nach den Modellen des Regel- und Funktionskreises (vgl. J. von Uexküll, 1973 [1928]). Auf der Ebene der S-O-B wird das Regel- und Funktionskreismodell des leiblich Unbewussten durch das Situationskreismodell (vgl. Th. von Uexküll & Wesiack, 1998) erweitert und ergänzt. Mit dem Situationskreismodell wird die Basis für die Entstehung einer gemeinsamen Wirklichkeit geschaffen.

Die angeborenen Fähigkeiten des Neugeborenen2 benötigen hierzu die komplementäre Gegenleistung einer ergänzenden Um- und Mitwelt. Wie ausgeführt, bleibt auch nach der Geburt das leiblich Unbewusste zeitlebens wirksam. Die auf ihm basierende S-O-B unterliegt in ihren Anfängen der infantilen Amnesie. Wir hatten dafür aus der Entwicklung der kortikalen und subkortikalen Systeme einen Bewusstseinsmodus abgeleitet, der emotionszentriert ist (vgl. Sauer & Emmerich, 2005). Er ist in der Zeit der infantilen Amnesie bestimmend dafür, dass das Kind vom Neugeborenen- bis zum Kleinkindalter die für ein vertrauensvolles Selbst- und Weltverständnis erforderlichen Entwicklungsaufgaben erfüllen kann. Erst mit dem kognitionsorientierten Bewusstseinsmodus entwickelt sich Zug um Zug eine kognitive Landkarte für ein bewusstes Selbst- und Weltverständnis.

Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, reagieren vor allem in den ersten drei bis vier Jahren die an der Gestaltung der O-U-B beteiligten Systeme besonders vulnerabel auf eine schlechte Umwelt. Nach Winnicott (1958) ist eine schlechte Umwelt deshalb schlecht, weil sie als Übergriff erlebt wird, auf den das Leib-Seelische mit einer Regression reagieren muss.

Mit der Geburt wird das basale Bedürfnis des Kindes nach Nahrung und Sauerstoff, nach Ruhe und Aktivität, nach Halt und Sicherheit zu einer «unvollendeten Ganzheit, die nach Vollendung strebt» (Piaget, 1975 [1937], S. 43). Dieses Streben findet seinen Ausdruck in den leiblichen Phänomenen eines affektiven Spannungsbogens von Interesse (Neugier, Hunger) – Erregung – Befriedigung (Zufriedenheit, Entspannung). Hinter diesem Spannungsbogen steht eine Energie, die Triebenergie. Für Freud (vgl. Laplanche & Pontalis, 1972) ist der «Affekt» die qualitative Äusserungsform der Quantität «Trieb­energie» und ihrer Variationen. Dabei ist zu betonen, dass das «Triebgeschehen des einzelnen Kindes nicht allein im Hinblick auf das Kind zu verstehen ist. Man hat ebenso die Bedingungen der Umwelt zu berücksichtigen, die die Abhängigkeitsbedürfnisse des Kindes entweder befriedigen oder nicht befriedigen» (Winnicott, 1958, S. 84). Die weitere Entwicklung des Kindes ist jetzt abhängig davon, inwieweit sein Erleben im Kontext der familiären und kulturellen Umgebung keine vitale Diskrepanz erfährt oder entwicklungsdynamisch gesprochen, Umwelt nicht als «schlecht», das heisst als Übergriff erlebt wird, auf den das Leib-Seelische mit einer Regression reagieren muss.

Für das Neugeborene und seine Umgebung stellt die Geburt im besonderen Masse eine emotionale Herausforderung dar. Die Umgebung, das sind in erster Linie die Bindungspersonen, also die Eltern. Die «Mitgift» des Neugeborenen für diese Aufgabe sind neben den angeborenen Fähigkeiten die intrauterin erworbenen leiblichen Umwelten. Dabei ist Bewusstsein aufseiten des Kindes die conditio sine qua non für das Entstehen einer gemeinsamen Wirklichkeit (vgl. Th. von Uexküll & Wesiack, 1998). Bewusstsein verstehen wir hier als die Fähigkeit, Wirklichkeit entstehen zu lassen (vgl. Sauer & Emmerich, 2005), im Falle von Neugeborenen zuerst im emotionszentrierten Modus.

Während bis zur Geburt die vegetativen und die spinalen und cranialen segmentalen Systeme tonangebend für die Bildung passender leiblicher Umwelten waren, kommen mit der Geburt die Organisationsformen der kortikalen, der subkortikalen und der cerebellären Systeme zur Gestaltung der S-O-B mit ins Spiel. Alle diese Systeme müssen miteinander interagieren. In diesem Konzert der Systeme ist die Beziehung der Dirigent.

Wie am Übergang von der Embryonal- zur Fetalperiode koordiniert jetzt das Neugeborene seine Aktivität im sozialen Raum seiner Umgebung. «Umgebung» ist nach Jacob von Uexküll (1973 [1928]) in diesem Kontext der Begriff für die soziale Konstruktion einer gemeinsamen Welt.

Damit die angeborenen Fähigkeiten des Kindes sich für die Gestaltung der O-U-B entfalten können, muss ihm seine Umgebung einen komplementären Raum der Empfindung und Empathie zur Verfügung stellen. Ohne diese Gegenleistung kann das Neugeborene seine Eigenleistung, die Ein- und Anpassung bzw. «Akkommodation» (Piaget) an seine Umwelt, nicht erbringen. Dieses Zusammenspiel von Leistung und Gegenleistung entscheidet über die weitere Entwicklung des Kindes, besonders über die Entstehung und Entwicklung von Vulnerabilität und Resilienz. Beides ist in hohem Masse abhängig von der Qualität der Intersubjektivität.

Bis zum Ende der infantilen Amnesie (3.–4. Lebensjahr) vollzieht sich, wie ausgeführt, der Aufbau von Wirklichkeit aufseiten des Kindes in der Sphäre eines emotionszentrierten Bewusstseins. Erst allmählich gewinnt die kognitionsorientierte Bewusstheit, wie wir sie als Erwachsene kennen, an Bedeutung. Im Rahmen dieses Wandels der Bewusstseinsmodi von einem emotionszentrierten zu einem kognitionsorientierten Modus baut sich – entsprechend der je individuellen Qualität der Empfindung – eine Welt der Objekte, die Vorstellungswelt, und die symbolische Welt der Begriffe und der Sprache auf, das je individuelle Selbst- und Weltverständnis.

An dieser Stelle wollen wir zum Verständnis zwei Sequenzen aus dem praktischen Umgang mit einem Neugeborenen beschreiben. Sie stammen aus der Untersuchungssituation des Kindes im Kontext des Klinikalltags. Dabei beschreibt das Verhalten des Neugeborenen exemplarisch einmal eine «ausreichend gute Umwelt» und zum anderen eine «schlechte Umwelt».

Verhalten als Beschreibung einer «ausreichend guten» und einer «schlechten» Umwelt

Der Beschreibung liegen zwei Ausschnitte der Videoaufzeichnung einer Untersuchungssituation des Kindes zugrunde. Grund des Klinikaufenthaltes war ein angeborener Herzfehler, der operiert werden musste. Die Mutter war bei der Untersuchung anwesend und eine Hilfe, um die Anforderungen der Situation (soweit möglich) den Bedürfnissen des Kindes anzupassen.

Die erste Situation zeigt das Neugeborene im Zustand des aktiven Wachseins. Für das Kind war es die Zeit des Gestilltwerdens, es wirkte sehr interessiert an seiner Umgebung. In dem Moment, in dem der Untersucher mit dem Fläschchen die Wange des Kindes berührte, wendete es das Köpfchen zur Seite der Flasche, erfasste den Schnuller mit den Lippen und begann mit dem Saugen und Schlucken. Nach dem Verständnis der Verhaltenstheorie hatte der Stimulus «Sauger» einen frühkindlichen Suchreflex, das sogenannte «Rooting» ausgelöst. Mit dem Begriff des Reflexes bezeichnet man im Allgemeinen eine stabile Reiz-Reaktions-Antwort. Wer aber dieses Rooting in seinen vielfältigen Ausdrucksvarianten kennt, weiss, dass bei den meisten Neugeborenen, wenn sie gestillt sind, das Berühren der Wange mit einem Wegdrehen des Köpfchens von der Seite des Stimulus beantwortet wird. Das zeigt die eigentliche Bedeutung des Rootings und das gilt ebenso für alle anderen sogenannten «Neugeborenenreflexe»: Es sind leibliche Phänomene.

Leibliche Phänomene sind nach der «Theorie der Humanmedizin» (vgl. Th. von Uexküll & Wesiack, 1998) aber zunächst Mediatoren von Bedeutungen. Im semiotischen Sinne sind leibliche Phänomene Träger von Zeichen, für deren Bedeutungserteilung eine hilfreiche Umgebung nötig ist, die sich in das Neugeborene einfühlen, sein Bedürfnis verstehen und entsprechend beantwortet kann (Respons!). Konkret zeigte das Neugeborene im Akt des Stillens eine Befriedigung des Bedürfnisses nach Nahrung. Doch folgen wir der weiteren Situationsbeschreibung.

Parallel zur Interaktion mit der Flasche hatte der Untersucher seine linke Hand auf das Neugeborene zubewegt mit der Absicht, sein Händchen zu nehmen, um ihm während des Trinkens einen Halt zu geben. Die Möglichkeit, diese Szene nochmals in einer Zeitlupe zu wiederholen, ergab, dass beide sich aneinander vorbeibewegten, denn in dem Moment, als der Untersucher seine Hand dem Kind entgegenstreckte, tat das Neugeborene mit seinem Ärmchen das Gleiche. Dabei verfehlten sich beide, um nach einem kurzen Hin und Her, einem «kleinen Handgemenge», zueinander zu finden. Unschwer ist daran zu erkennen, dass hier im Akt des Stillens auch das Bedürfnis nach einer Halt gebenden Umgebung befriedigt wurde.

Die zweite Situation zeigte dasselbe Neugeborene im Zustand des erregten Wachseins. Der Untersucher hatte das Kind zur weiteren Diagnostik bis auf die Windel entkleidet. Dabei zeigten sich eine Operationsnarbe zwischen zwei Rippen und mehrere Elektroden, die an der Brustwand fixiert waren. Mit ihrer Hilfe wurde die Herztätigkeit kontrolliert.

Im Moment, da er das Hemdchen vorsichtig auszog, begann das Kind sofort zu schreien und geriet in eine starke Erregung.

Wie um es zu beruhigen, bot der Untersucher ihm erneut, wie oben beschrieben, das Fläschchen an. Doch jetzt hatte er damit keinen «Erfolg». Das Kind schrie weiter und wurde erregter. Dabei hatte es beide Händchen fest gefaustet und erst, als der Untersucher auch dieses Mal mit seiner Hand das Kind berührte, liess die Erregung nach. Dieses Mal blieb das Rooting aus, aber bei der Berührung der Lippen erfasste das Kind den Sauger und begann zu trinken.

Auch hier zeigte die Zeitlupe des Geschehens ein entscheidendes Detail. Mit seiner Hand hatte der Untersucher die Rückseite des gebeugten Ärmchens, die Rückseite der oberen Schulterpartie und die Rückseite der zum Fäustchen geballten Hand des Kindes umfasst, um so die Rückseite des Köpfchens zu erreichen. Während dieser Berührung löste sich die Spannung, das Fäustchen öffnete sich. Mit dem Öffnen der Hand liess die Erregung nach und das Kind begann, wie beschrieben, zu saugen und zu trinken; zuerst noch hastig und dann immer ruhiger werdend.

Bi-personaler Beziehungsakt

Beide Szenen stellen einen bi-personalen Beziehungsakt dar zwischen einem Neugeborenen und einem Erwachsenen. Für dessen Gestaltung bringen beide Seiten unterschiedliche Beziehungserfahrungen ein.

Die Geschichte dieser Beziehungserfahrung bis zur Geburt hatten wir im Konzept des leiblich Unbewussten charakterisiert (vgl. Sauer & Emmerich, 2016a). Speziell die individuelle Geschichte der O-U-B dieses Kindes war von Geburt an von Erfahrungen in einer Klinik geprägt. Das Kind musste, wie oben gesagt, wegen eines angeborenen Herzfehlers operiert werden.

Was brachte der Untersucher als psychosomatisch orientierter Arzt in die Beziehung ein?

In erster Linie: eigene Beziehungserfahrungen als Kind, Erfahrungen als Vater und hier vor allem Erfahrungen im Umgang mit kranken Kindern und ihren Bedürfnissen sowie – als Fachmann – speziell eine Vorstellung vom Ursprung der Erregung dieses Kindes. Kinder, wie das Beschriebene, machen viele zum Teil sehr divergierende leibliche Erfahrungen im Kontext diagnostischer, therapeutischer und pflegerischer Massnahmen (Berührung, Kälte, Schmerzen und andere).

Die Interaktionen mit dem Kind waren also bestimmt vom Einfühlen, Verstehen und Wissen sowohl des situativen Verhaltens als auch seiner Geschichte. Einfühlen, Verstehen und Wissen in der Situation und in die Geschichte sind grundsätzliches Rüstzeug für die Gestaltung einer Beziehung. Alle Situationen haben eine Geschichte beziehungsweise eine Tiefendimension.

Führen wir uns jetzt mithilfe dieser Vorstellung noch einmal die erste Situation vor Augen: Das Kind war hungrig und durch sein Verhalten beschrieb sein Organismus die Erfahrung einer «ausreichend guten Umwelt» für das Bedürfnis, gestillt zu werden.

Doch das war nicht alles: Darüber hinaus beschrieb das Verhalten des Kindes noch weit mehr. Dazu muss vorausgeschickt werden, dass einem Neugeborenen die Geste, sein Ärmchen dem Gegenüber entgegenzustrecken, noch fremd ist, erst recht, wenn es sich um eine unbekannte Person handelt. Wie ausgeführt, gab es ein «kleines Handgemenge», bei dem das Neugeborene dem Untersucher aktiv sein Ärmchen entgegenstreckte, das er erst verfehlte, bis er sein Händchen fasste, um ihm Halt zu geben.

Die ganze Szene zeigte, dass trotz der widrigen Umstände in einer Klinik, das Kind offenbar positive Erfahrungen seit seiner Geburt gemacht hatte und in den bi-personalen Akt der Beziehung mit einbringen konnte. Konkret beschrieb sein Verhalten eine Umwelt, die aus den vielfältigen Beziehungsakten mit der Mutter und mit den Personen, die es pflegten, hervorgegangen war.

Das Entgegenkommen mit dem Ärmchen ist ein leibliches Phänomen. Es ist vieldeutig. Die Geste signalisiert das Bedürfnis nach Halt und Sicherheit, das sowohl bei Angst, bei Schmerzen als auch beim Gefühl des Verlassenseins in Erscheinung tritt und nach einer passenden Gegenleistung verlangt. Im konkreten Beispiel ist darin das Phänomen einer forcierten Anpassung zu sehen. Für eine gesunde Entwicklung kommt es jetzt auf ein komplementäres Einfühlen, Verstehen und Wissen der Umgebung an.

In der zweiten Szene beschreibt das Verhalten eine «schlechte Umwelt», die deshalb schlecht ist, weil sie (nach Winnicott) als Übergriff erlebt wird, auf den das Leib-Seelische mit einer Regression reagieren muss.

Die Intervention des Untersuchers in der Situation erfolgte intuitiv, um dem Kind Halt und Sicherheit zu vermitteln. Was unterscheidet in Bezug auf Halt und Sicherheit nun die Berührung des Kindes durch die Hand des Untersuchers in beiden Situationen, da das Kind doch auch im zweiten Fall auf der Unterlage sicher zu liegen schien und trotzdem in die beschriebene Erregung geriet?

Einfühlen, Verstehen und Wissen sind jetzt sowohl für das situative Verhalten als auch für seine prä- und postnatale Geschichte die conditio sine qua non, das heisst, die individuelle Geschichte dieses Kindes ist in der Untersuchungssituation mit zu berücksichtigen.

Das Entkleiden des Kindes war wie ein Trigger für das leibliche Erinnern an das Entkleiden im Rahmen schmerzhafter oder als Übergriff erlebter diagnostischer oder therapeutischer Massnahmen. Selbst der operative Eingriff mit der Eröffnung des Brustkorbes in Allgemeinnarkose bleibt unbewusst als schmerzhafte Erinnerungsspur wirksam, wenn nicht die spinalen thorakal-segmentalen Systeme zusätzlich anästhesiert werden (vgl. Sandkühler, 2001).

So liess sich das Verhalten in der Szene des Erregtseins als leibliches Erinnern auf leidvolle postnatale Erfahrungen verstehen. Das war aber noch nicht alles. Die Antwort auf die Berührung mit der Hand in der zweiten Szene deutete gleichzeitig auf ein Bedürfnis hin, das Bedürfnis nach Halt und Sicherheit. Die haltende Hand kann hier wie ein Substitut für die intrauterine Umgebung verstanden werden. So lassen das Verhalten und die Antwort zusammen eine Regression erkennen als Reaktionsbildung auf eine als Übergriff erlebte «schlechte Umwelt». Und auf diesem regressiven Niveau konnte das Bedürfnis nach einer Halt und Sicherheit gebenden Umgebung befriedigt werden, sodass kurzfristig das affektive Erregtsein nachliess.

Doch wie kommt es auf diesem regressiven Niveau zur Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf den «Sauger» als Stimulus?

Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Hier hilft zum Verständnis ein kurzer Exkurs in den Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Aufmerksamkeit. Diesem Zusammenhang haben wir bereits ein ganzes Trauma-Heft gewidmet (vgl. Sauer & Leuschner, 2008), welches sich mit dem «Vorbewussten» befasste. Freuds Annahme der Existenz eines Vorbewussten am Übergang vom Unbewussten zum Bewusstsein (vgl. Laplanche & Pontalis, 1973) findet in der Organisationsform der Formatio reticularis eine neuronale Entsprechung. Ohne näher auf die von Freud postulierte «zweite Zensur» des Vorbewussten einzugehen, besteht die Aufgabe dieser vom oberen Hirnstamm bis zum sacralen Rückenmark reichenden Netzwerkformation (vgl. Brodal, 1969) vor allem darin, störende Inhalte vom Bewusstwerden fernzuhalten und dadurch die Ausübung der vollen Aufmerksamkeit zu gewährleisten.

Wir hatten als Auslöser für die Situation des Erregtseins das Entkleiden des Kindes verantwortlich gemacht und es als Trigger für ein leibliches Erinnern identifiziert. Zum Verständnis des Erinnerns bedarf es nochmals der Erwähnung des in den spinalen segmentalen Systemen implementierten Gedächtnisses. Die spinalen segmentalen Systeme selbst sind viszero- und somatotop gegliedert und repräsentieren unseren gesamten Organismus. Diese viszero-somatotope neuronale Organisationsform (des leiblich Unbewussten) ist sowohl zeitlich als auch räumlich die erste Grundlage für die Bildung leiblicher Umwelten aus unseren frühesten intrauterinen Beziehungserfahrungen. Unter anderem fallen darunter auch Erfahrungen, die schon der Fetus im spielerischen Umgang mit dem eigenen Daumen entwickelt hat.

Somit stellte die Berührung durch die Hand des Untersuchers in zweifacher Hinsicht eine Brücke dar: Zum einen substituierte die gleichzeitige Berührung des Ärmchens, der Schulter, der Hand und des Köpfchens wie die intrauterine Umgebung die Empfindung einer Halt und Sicherheit gebenden leiblichen Umwelt, zum anderen konnte in der Situation die gegenwärtige mit einer vergangenen Beziehungserfahrung verknüpft werden. Verknüpfungen zwischen den Integrationsebenen der Systeme folgen einem anderen als dem gewohnten linearen Ursache-Wirkungs-Prinzip. Vielmehr geht die Verknüpfung mit einem Bedeutungssprung und einer Bedeutungskoppelung einher: «Dabei geht es auf allen Integrationsebenen und zwischen allen Integrationsebenen um Passung zwischen körperlichen und Umweltanteilen. Passung ist Voraussetzung für Autonomie, der Fähigkeit, frei über seine Kräfte verfügen zu können» (Th. von Uexküll & Wesiack, 1998, S. 492).

Wir hatten an anderer Stelle ausgeführt, dass Bedeutungssprünge zwischen den Integrationsebenen, die mit Bedeutungskoppelungen einhergehen, stimmungsabhängig sind und vor allem in einem emotionszentrierten Bewusstseinsmodus erfolgen. Umgekehrt wissen wir aus den therapeutischen Erfahrungen mit neurologisch Kranken und Intensivpatienten, die existenziell bedrohliche Grenzerfahrung überlebt und dafür eine Amnesie haben, dass in diesen Grenzsituationen Entkoppelungen von Bedeutungen stattfinden. Exemplarisch hatten wir das am Beispiel von «Max auf der Feuerleiter» ausgeführt (vgl. Sauer & Emmerich, 2014).

Sein Beispiel steht stellvertretend für alle von uns behandelten PatientInnen nach einem Koma, ebenso für PatientInnen nach einem Locked-in-Syndrom, einer Epilepsie oder einer anderen durch Krankheit oder Unfall verursachten existenziellen Grenzsituation. Wir können in solchen Situationen immer von einer mehr oder weniger vollständigen Regression auf die Integrationsebenen des leiblich Unbewussten ausgehen.

Intersubjektivität und die Gestaltung einer hilfreichen Umwelt

Am Beispiel des Neugeborenen haben wir gesehen, dass die Gestaltung einer therapeutisch hilfreichen Umwelt mit der Qualität der Intersubjektivität steht und fällt. Um Missverständnissen vorzubeugen, ziehen wir die Notwendigkeit der das Überleben sichernden Herzoperation nicht in Zweifel. Dennoch dürfen wir die Belastungen, die durch Diagnostik und Therapie entstehen, nicht aus den Augen verlieren. In «Vorbewusste Prozesse» (Sauer & Leuschner, 2008) haben wir am Beispiel eines erwachsenen Probanden nach einer Herz-Operation im Neugeborenenalter die lebenslangen Folgen beschrieben. Sie sind in die physiologischen Systeme des leiblich Unbewussten eingeschrieben und zeitlebens wirksam.

Aus diesem Grund ist nach unseren Erfahrungen die systematische Gestaltung einer therapeutisch hilfreichen Umwelt eine Notwendigkeit, vor allem vor dem Hintergrund des zunehmenden medizin-technischen Fortschritts. Intersubjektivität bedeutet in diesem Zusammenhang einen kontinuierlichen Austausch nach den drei Grundsätze: Einfühlen, Verstehen und Wissen. Einfühlen in die Situation und die Bedürfnisse des Patienten, Verstehen des Verhaltens nicht nur aus der Sicht eines aussenstehenden Beobachters, sondern aus der Sicht des beobachteten Organismus und ein Wissen über die Anforderungen an die Aufrechterhaltung der Kontinuität einer fortlaufenden Beziehung zwischen Organismus und Umwelt als Einheit des Überlebens.

Wir sehen am Beispiel des Kindes, wie die gegensätzlichen Selbst- und Welt-Erfahrungen einerseits eine forcierte Anpassung leiblicher Phänomene an die Situation erkennen lassen und wie sich andererseits in der Erregung des Kindes die Generalisation einer «schlechten Umwelt» spiegelt, auf den das leiblich Unbewusste mit einer Regression reagieren muss.

Beide Verhaltensweisen stehen noch weitgehend unverbunden nebeneinander und es ist sehr gut nachvollziehbar, dass eine gesunde Entwicklung nach diesem notwendigen Eingriff in besonderem Masse von der Einfühlung in die Empfindungswelt des Kindes und vom intuitiven Verstehen und Wissen der Umgebung abhängt.

Nach dem bio-psycho-sozialen Krankheitskonzept der psychosomatischen Medizin entscheidet über Gesundheit und Krankheit «weder die Beschaffenheit des Subjekts noch die der Umwelt alleine, sondern die Relation zwischen beiden, ihre gegenseitige Passung bzw. ein Passungsverlust» (Th. von Uexküll & Wesiack, 1998, S. 303).

Für diese Relation ist Intersubjektivität keine quantité négligeable, sondern ein wichtiger Mediator vor allem und erst recht im Kontext einer intensivmedizinischen Behandlung oder Behandlung einer chronischen Erkrankung.

Literatur

Brodal, A. (1969). Neurological Anatomy. New York/London/Toronto: Oxford University Press.

Emmerich, S. & Sauer, M. (2003). Psychotherapie bei Schädigungen des Zentralnervensystems. Psyche –Zeitschrift für Psychoanalyse, 7, 612–638.

Laplanche, J. & Pontalis, J. B. (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Piaget, J. (1975 [1937]). Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. In ders., Gesammelte Werke, Bd. II (S. 43). Stuttgart: Klett.

Sandkühler, J. C. (2001). Schmerzgedächtnis. Dt. Ärzteblatt., 42, 2340–2344.

Sauer, M. & Emmerich, S. (2005). Bewusstsein und die Veränderungen des Bewusstseinsmodus in existentiellen Grenzsituationen – eine zeichentheoretische Betrachtung. Kinderanalyse. Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse in Psychotherapie und Psychiatrie des Kindes-und Jugendalters, 13, 296–328.

Sauer, M. & Emmerich, S. (2014). Krisis und kathartische Wende einer dramatischen Beziehungsgeschichte nach schwerem Trauma. Max auf der Feuerleiter. ZPPM – Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin, 3, 93–105.

Sauer, M. & Emmerich, S (2016a). Frühe Organisationsformen des Leib-Seelischen: die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt als Einheit des Überlebens und das Konzept eines leiblich Unbewussten. Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen, 14(2), 16–27.

Sauer, M. & Emmerich, S (2016b). Vulnerabilität und das Konzept des leiblich Unbewussten – eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung. Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen, 14(3), 18–27.

Sauer, M. & Emmerich, S (2017). Chronischer Schmerz nach Trauma – ein Phänomen des leiblich Unbewussten. Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen, 15, 24–37.

Sauer, M. & Leuschner, W. (2008). Vorbewusste Prozesse. Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin, 3, 7–18.

Uexküll, J. von (1973 [1928]). Theoretische Biologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp [Neudruck der 2. Auflage, Berlin: Springer].

Uexküll, Th. von & Wesiack, W. (1998). Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns. München: Urban & Schwarzenberg.

Winnicott, D. W. (1958). Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. München: Kindler.

Intersubjectivity and the concept of the physically unconscious – a phenomenological perspective

Illness or accidents often cause the affected to suffer from an existential crisis, which requires psychotherapeutic treatment, on top of the medical care they receive. For this type of patient, a model has been developed, in which the physician cooperates with the psychotherapist. Furthermore, this model intends to include patient, relatives and all the professionals involved (care as well as therapy personnel) into the planning of the treatment process. It should be noted that we consider the treatment team as the «narrative team». The relationship

between organism and environment stands at the centre of the therapy plan as well as the work-team.

The necessity to develop a concept of physical unconsciousness is evident from past treatment experiences, e. g. intensive care patients, as well as other existential borderline situations, caused by illness or accidents. The quality of the intersubjectivity is essential when planning a therapeutic and supportive environment.

Keywords: psychotherapy physician cooperation, physically unconscious, narrative team-work, intersubjectivity, therapeutic, supportive environment

Intersoggettività e il concetto di inconscio corporeo – una riflessione fenomenologica

A causa di malattie e incidenti le persone che ne vengono colpite cadono spesso in crisi esistenziali, tanto da richiedere assistenza psicoterapeutica in concomitanza con le cure mediche. Per questi/e pazienti è stato sviluppato un modello di cooperazione medica-psicoterapeutica, in cui i pazienti, i familiari e tutti gli operatori professionali (nella cura e nella terapia) sono coinvolti nella pianificazione della terapia. Inoltre, il personale che si occupa del trattamento del paziente viene inteso come «team narrativo». Al centro della pianificazione della terapia e del lavoro di squadra sta la relazione tra l’organismo e l’ambiente.

Dalle esperienze relative al trattamento di pazienti in terapia intensiva e di altre situazioni esistenziali limite causate da malattie e incidenti si è resa evidente la necessità della concezione di un inconscio corporeo. La qualità dell’intersoggettività è di decisiva importanza per la creazione di un ambiente benefico dal punto di vista terapeutico.

Parole chiave: cooperazione medica-psicoterapeutica, inconscio corporeo, lavoro narrativo di squadra, intersoggettività, ambiente benefico dal punto di vista terapeutico.

Die AutorInnen

Sabine Emmerich, Dipl.-Psych., Dipl.-Päd., Psychologische Psychotherapeutin für Erwachsene, Kinder, Jugendliche und Gruppen, Dozentin der Psychotraumatologie.

Manfred Sauer, Prof. Dr. med., FA für Neurologie, FA für Pädiatrie, Dozent der Psychotraumatologie.

Kontakt

Manfred Sauer

Schwaighofstr. 12

79100 Freiburg

manfred.sauer@t-online.de

Anmerkungen

1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete Fassung unseres Artikels «Vulnerabilität und das Konzept des leiblich Unbewussten», bereits 2016 erschienen in: Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen, 14(3), 20–31.

2 Angeborene Fähigkeiten des Neugeborenen sind: Aktivität, Gliederung von Gefühlserfahrungen, soziale Interaktion, Inter­subjektivität, Selbstorganisation und Bewusstsein als Fähigkeit, Wirklichkeit entstehen zu lassen.