Editorial

Im vorliegenden Heft wird das Phänomen der Intersubjektivität sehr breit diskutiert:

Bereits die Breite der Diskussion macht deutlich, dass Intersubjektivität zum Menschsein gehört. Wie Sabine Emmerich und Manfred Sauer es in ihrem Beitrag auf den Punkt bringen:

«Der Ursprung des leiblich Unbewussten reicht zurück an den Anfang unserer individuellen menschlichen Existenz. Dieser Anfang ist ein Beziehungsakt, der sich in einer fortlaufenden Geschichte der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt fortsetzt. Für jeden Schritt von einer einfachen zu einer komplexeren Stufe benötigt die Entwicklung der Organismus-Umwelt-Beziehung (O-U-B) eine Halt und Sicherheit gebende Umgebung.»

Man kann sagen, dass es die Intersubjektivität ist, die das Menschsein überhaupt ausmacht. Neu und interessant ist die Verknüpfung von Intersubjektivität mit einer säkularen Spiritualität, wie sie Mario Schlegel in seinem Artikel aufzeigt. Dass auch dieser Aspekt in diesem Heft sichtbar wird, verdanken wir der aktuell laufenden Diskussion über die Abgrenzung wissenschaftlich fundierter Psychotherapie von Esoterik. Mit diesem Beitrag wollen wir eine klare Stellung beziehen, die auf Kriterien der Schweizer Charta für Psychotherapie aufbaut. Das genuine menschliche Bedürfnis nach Spiritualität und Religion kann aus der Psychotherapie nicht ausgeblendet werden. Die Frage ist jedoch: Welche Art von Spiritualität verträgt sich mit wissenschaftlicher Psychotherapie? Hier ist es notwendig, Grenzen zur Esoterik zu ziehen, einerseits im Hinblick auf die therapeutische Arbeit und anderseits auf erkenntnistheoretischer Ebene.

In der therapeutischen Arbeit wird bei religiösen und spirituellen Themen anerkannt, dass sie für die Resilienz des Patienten zentral sind. Abstinenz seitens der Therapierenden ist in diesem Fall für die Autonomie der PatientInnen unabdingbar, denn das subjektive innere Erleben darf nicht mit den persönlichen Glaubenssystemen der Therapierenden in Verbindung gebracht werden. Wissenschaftlich fundierte Psychotherapiemethoden unterscheiden zwischen persönlicher Betroffenheit und wissenschaftlicher Perspektive. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die PatientInnen vor Indoktrination geschützt sind.

Auf den ersten Blick scheint Spiritualität mit Intersubjektivität nicht viel zu tun zu haben. Dem ist aber nicht so. In seinem Aufsatz schlägt Mario Schlegel für die Psychotherapie ein neues Verständnis von Spiritualität vor, das sich nicht im Gegensatz zu ihrer in Tradition der Aufklärung stehenden wissenschaftlichen Grundlage befindet. Dabei bezieht er sich auf die Tatsache, dass eine das Ich überschreitende, altruistisch-humanistische Wert­orientierung eine biologische Basis hat. Die Fähigkeiten zu tätigem Altruismus, Kooperation, Sinnfindung und Ethik sind anthropologische Konstanten, die auch in die Grundsätze der Religionen eingeflossen sind. Diese Eigenschaften machen den Kern der Zwischenmenschlichkeit aus. Die in der therapeutischen Beziehung praktizierte Intersubjektivität kann entsprechend als eine säkulare Form von Spiritualität mit hohem ethischen Anspruch aufgefasst werden.

Die Nähe von Psychologie und Psychotherapie mit Spiritualität zeigt sich seit den Anfängen der Psychologie im neunzehnten Jahrhundert. Joachim Raacks Aufsatz, der bereits in der aktuellen Ausgabe der Analytischen Psychologie erschienen ist, zeigt das wechselhafte Auf und Ab des Verhältnisses von Spiritualität und Religion in der Geschichte der Psychologie und Psychotherapie. Hier werden auch die Wurzeln der humanistischen Psychotherapie und der transpersonalen Psychologie sichtbar. Für den aktuellen Diskurs über die Abgrenzung bringt Raacks Aufsatz willkommene Klarheit aus historischer Perspektive. Aus diesem Grund haben wir ihn gebeten, seinen Artikel auch in unserer Zeitschrift zu publizieren.

Wir wünschen ihnen eine anregende Lektüre.

Mario Schlegel & Rosmarie Barwinski