Originalarbeit

Pia McMahon

Märchen als Ressource bei maladaptiven Schemata und pathogenen Komplexepisoden

Zusammenfassung: Sowohl in der Analytischen Psychologie als auch in der Schematherapie werden Konzepte beschrieben, die erklären, wie psychische Störungen und Symptome aufgrund von dysfunktionalen Beziehungsmustern entstehen können. Dabei handelt es sich um schwierige generalisierte Beziehungsepisoden, bei denen sich innerlich zwei Menschen in Form eines Kindes (als primäre intensive emotionale Zustände) und einer Beziehungsperson (als internalisierte negative Bewertungen) gegenüberstehen. Ziel beider Ansätze ist es, die negativen kognitiven Bewertungen zu modifizieren und das primäre Erleben der kindlich emotionalen Zustände bewusst zu machen. Abwehr-, Kompensations- und Bewältigungsverhalten schützen den Betroffenen jedoch vor diesen überwiegend schmerzhaften kindlich emotionalen Zuständen und erschweren den Zugang zu ihnen. Märchen stellen das allgemeinmenschliche und kulturelle Erbgut der Beziehungsgeschichten dar, ein enormer Fundus für Beziehungsmuster. Durch Märchen wird die bildhafte, imaginative Seite im Menschen angesprochen, sie entsprechen der Gefühlswelt von Kindern. Damit bieten Märchen innerhalb des therapeutischen Prozesses die Möglichkeit, die Gefühlswelt zunächst einmal empathisch und mit Distanz anzuschauen. Dies eröffnet Möglichkeiten zur Bewusstwerdung, zur Entwicklung von Empathie für diese emotionalen Zustände, damit für sich selbst und zur Mentalisierung. Dieser Beitrag erläutert, wie die Entstehung und die Bewältigung von dysfunktionalen Beziehungsmustern in Märchen abgebildet werden und wie dadurch Ressourcen im therapeutischen Prozess erschlossen werden können.

Schlüsselwörter: Analytische Psychologie, Komplex, Komplexepisode, Märchen, Modus, Ressource, Schema, Schematherapie

Fairytales as a resource for working with maladaptive schemas and pathological complex episodes

Abstract: In both Analytical Psychology and Schema Therapy, there are concepts described which explain how mental disorders and symptoms can occur due to dysfunctional relationship patterns. These are difficult generalised relationship episodes, in which internally two persons in the form of a child (as primal intensive emotional state) and an attachment figure (as internalised negative judgements) are pitted against each other. The goal of both approaches is to modify the negative cognitive assessments and to make the primary experience of the infantile emotional states conscious. However, defence, compensation, and coping behaviours protect the person from these predominantly painful infantile emotional states and make access to them difficult. Fairytales illustrate the universal human experience and cultural inheritance of relationship narratives, a great source of relationship patterns. The vivid, imaginative side within humans is highlighted through fairytales; they reflect children’s spectrum of feelings. Within the therapeutic process, fairytales offer the possibility to observe this emotional spectrum both empathically and at arm’s length. This opens up possibilities for becoming conscious, for the development of empathy for these emotional states, therefore for oneself and for mentalisation. The following article illustrates how the formation of and the coping strategies for dysfunctional relationship patterns are represented in fairytales, and thus how resources in the therapeutic process can be developed.

Keywords: Analytical psychology, complex, complex episodes, fairytale, modus, resource, schema, schema therapy

Le fiabe come risorsa in caso di schema maladattivo ed episodi del complesso patogeni

Riassunto: Sia la psicologia analitica che la schema therapy descrivono concetti che spiegano come disturbi psichici e sintomi possono nascere a causa di modelli relazionali disfunzionali. Si tratta di episodi relazionali difficili generalizzati nell'ambito dei quali due persone si confrontano internamente sotto forma di un bambino (stati emozionali intensivi primari) e di una persona di riferimento (giudizi negativi interiorizzati). L'obiettivo di entrambi gli approcci è quello di modificare le valutazioni cognitive negative e di rendere cosciente l'esperienza primaria degli stati emozionali infantili.Comportamenti difensivi, compensatori e di superamento proteggono tuttavia l'interessato da questi stati emozionali infantili prevalentemente dolorosi rendendo più difficoltoso l'accesso alla persona. Le fiabe rappresentano l'eredità umana e culturale comune delle storie delle relazioni: un'enorme fonte di modelli relazionali. Esse si rivolgono al lato fantastico e immaginativo della persona, corrispondono al mondo delle emozioni dei bambini. Nell'ambito del processo terapeutico, le fiabe offrono così la possibilità, in un primo momento, di guardare al mondo delle emozioni con empatia e distanza. Questo apre nuove possibilità alla presa di coscienza, allo sviluppo di empatia verso questi stati emozionali e così anche verso sé stessi e la mentalizzazione. Il seguente contributo spiega come vengono rappresentati nelle fiabe la creazione e il superamento di modelli relazionali disfunzionali e come ciò renda accessibili nuove risorse utili al processo terapeutico.

Parole chiave: psicologia analitica, complesso, episodi del complesso, fiaba, modo, risorse, schema, schema therapy

Jeffrey Young ist der Begründer der Schematherapie, die sich aus der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) der späten 80er Jahre heraus entwickelt hat. Insbesondere für Patientinnen mit schweren Persönlichkeitsstörungen respektive Borderline-Persönlichkeitsstörung erwies sich die KVT für ihn als nicht genügend wirksam. Er hat ein Schemamodell entwickelt, das sowohl auf analytischer (Meier, 2012; Roesler, 2010) als auch auf schematherapeutischer Seite (Jacob, 2011; Roediger, 2011) mit der Komplextheorie der Analytischen Psychologie in Verbindung gebracht wird. In meiner Diplomthesis (McMahon, 2014) am C.-G.-Jung-Institut, Zürich, habe ich die wesentlichen Aspekte der Komplextheorie nach C. G. Jung den Kernelementen des Schemamodells nach Jeffrey Young auf Basis eines ersten Vergleichs von Isabelle Meier (2012) gegenübergestellt und weiter ausgearbeitet. Auf einige der Ähnlichkeiten und Unterschiede in den beiden theoretischen Konzepten gehe ich in dieser Publikation ein. Ziel ist es darüber hinaus, mögliche Synergien darzustellen, die sich aus der Verbindung der beiden Ansätze ergeben. Dabei liegt meines Erachtens der grösste Vorteil bei der Komplextheorie in der zugrunde liegenden archetypischen Dimension, die über den konsequenten Einbezug von Symbolen selbstregulative Ressourcen eröffnet, und beim Schemakonzept auf dessen differenzierter Systematik aufgrund von Interpretationen klinischer Beobachtungen.

Die Literaturauswahl ist nicht nur auf den deutschsprachigen Raum begrenzt, jedoch davon bestimmt. Der Grund dafür ist, dass innerhalb der Schematherapie ein Lehrbuch von Roediger (2009) veröffentlicht wurde, das stärker auf theoretische Grundlagen eingeht, als das generell innerhalb der Schematherapie geschieht, die von Jacob (2011) selbst eher als „Praxeologie“ verstanden wird. Zudem bezieht sich Roediger mehrmals explizit auf die Analytische Psychologie, was bei Young et al. (2008) nicht der Fall ist. Des Weiteren bestehen bei den theoretischen Grundlagen, den den Schemata zugrunde liegenden Grundbedürfnissen, Abweichungen zwischen Roediger (2011) und Young et al. (2008). Lockwood und Perris (2012) haben mittlerweile eine differenziertere Sicht auf die „Grundbedürfnisse in Beziehungen“ vorgelegt, dennoch beziehe ich mich der Klarheit halber mehrheitlich auf Roediger. Innerhalb der Analytischen Psychologie habe ich grösstenteils Autoren und Autorinnen gewählt, die die Komplextheorie weiterentwickelt haben.

Eine wesentliche Aussage meiner Diplomarbeit ist, dass die maladaptiven Schemata des Schemamodells (early maladaptive schemas) den pathogenen Komplexepisoden der Komplextheorie entsprechen.

Da sich pathogene Komplexepisoden beziehungsweise maladaptive Schemata und deren Bewältigung störend auswirken, z. B. als Verursacher von Symptomen, unangemessene Reaktionstendenzen und Fehlleistungen, ist darin der Grund zu sehen, warum man sich in der Folge innerhalb der Analytischen Psychologie (Bovensiepen, 2009) und auch der Schematherapie hauptsächlich mit dem pathologischen Aspekt auseinandergesetzt hat. Allerdings gibt es auch Ansätze innerhalb beider Richtungen, insbesondere auf Seiten der Schematherapie, sich mit Ressourcenaktivierung und der interaktionellen Entstehung und Entwicklung von gesunden oder förderlichen Schemata und Komplexepisoden und damit verbundenen Erfahrungen und Assoziationen wissenschaftlich zu beschäftigen (Kast, 2002; Lockwood & Perris, 2012).

Maladaptive Schemata und pathogene Komplexepisoden

Maladaptive Schemata sind laut Young et al. überdauernde Lebensthemen, die sich in der Kindheit entwickeln und im Verlauf des Lebens weiterentwickeln. Sie bestehen aus Erinnerungen, Emotion, Kognition und Körperempfindung (Young et al., 2008). Roediger bezeichnet sie als interaktionell-biografisch entstandene innere Ordnungsmuster und in Anlehnung an Guidano und Liotti (1983) als „unbewusste Bewertungsschablonen“ (Roediger, 2011, S. 12), wobei er im Folgenden die Ähnlichkeit zum Komplex-Begriff von Jung durchaus sieht (Jung, 1995a). Hier müsste aus meiner Sicht jedoch weiter differenziert werden, dass die maladaptiven Schemata genau genommen den pathogenen Komplexepisoden entsprechen, die Kast auf Basis der Komplextheorie von Jung beschrieben hat. Komplexepisoden beinhalten spezifische Themen, die aus einer Beziehungsepisode heraus entstanden sind. Beispiele dafür sind: „Irgendwie werde ich immer im Stich gelassen“, oder „Ich bin immer an allem schuld“, oder „Aus dem wird nie etwas Rechtes“, oder „Wenn ich nicht alles selber mache, geht immer alles schief“ (Kast, 2008, S. 5 f). Damit bilden sich für Kast die Beziehungsgeschichten der Kindheit und des späteren Lebens in den Komplexepisoden ab. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet, stehen sich innerlich zwei Menschen in Form eines Kindes und einer Beziehungsperson gegenüber (Kast, 2007). Die negativen internalisierten Annahmen dieser Beziehungserfahrungen gehen dabei vom Angreifer aus, der durch die Beziehungsperson innerlich repräsentiert wird, und sie werden vom Betroffenen oft übernommen (Kast, 2008).

In beiden Ansätzen (Roediger, 2011) werden Parallelen zu den „representations of interactions that have been generalized“ von Daniel Stern gesehen. Eine generalisierte Episode muss nicht als solche erlebt worden sein; sie stellt für Stern „eine Struktur des wahrscheinlichen Ereignisverlaufs dar, die auf durchschnittlichen Erwartungen beruht“ (Kast, 2008, S. 28). Erinnerte Komplexepisoden spiegeln also als Bild und Atmosphäre des Komplexes eine generalisierte Episode wider: „Allerdings müssen das innere Kind oder die inneren Eltern nicht die Realität darstellen, vielmehr sind es verinnerlichte Gefühle, sekundäre Emotionen oder ein Konglomerat von enttäuschten Erwartungen.“ (Meier, 2012, S. 44)

Von Vertretern beider Ansätze (Young et al., 2008; Knox, 1999, 2004) werden theoretische Vergleiche zur Bindungstheorie nach Ainsworth und Bowlby (1991), zu den inneren Arbeitsmodellen nach Bowlby (1973, 1975, 1979) und zu den sich daraus ergebenden Bindungstypen nach Ainsworth et al. (1978) gezogen, die Roediger (2011) mit den verschiedenen Bewältigungsstilen in Verbindung bringt. Knox, auf Seiten der Analytischen Psychologie, sieht zudem Parallelen zwischen den inneren Arbeitsmodellen von Bowlby und den „representations of interactions that have been generalized“ von Stern (Knox, 1999). Fazit: Verschiedene anerkannte Forscher sehen Parallelen ihrer Ansätze zur Bindungstheorie, die davon ausgeht, dass ein Kind eine „angeborene Prädisposition“ (Schlegel, 2013, S. 91) oder einen „Bindungsinstinkt“ (Young et al., 2008, S. 91) hat, sich an eine Bindungsfigur zu binden. Maladaptive Schemata sind Young et al. (2008, S. 93) zufolge als dysfunktionale innere Arbeitsmodelle zu verstehen „und die charakteristischen Reaktionen auf Bindungsfiguren als Bewältigungsstile“.

Young et al. (2008) definieren im Gegensatz zur Analytischen Psychologie ein Modell mit achtzehn Schemata, auf die ich in diesem Rahmen nicht umfänglich eingehen kann. Sie entstehen als Folge von nicht angemessen befriedigten Grundbedürfnissen und werden auf fünf Schemadomänen (schema domains) aufgeteilt. Die Frustration des jeweiligen Grundbedürfnisses gibt der Schemadomäne ihren Namen (Tabelle 1, Schemadomäne „Abgetrenntheit und Abspaltung“ mit dem frustrierten Grundbedürfnis nach „sicherer Bindung zu einem Menschen“). Die Definition der achtzehn Schemata hat sich aus langjährigen klinischen Beobachtungen ergeben und ist nicht wissenschaftlich abgeleitet (Jacob & Arntz, 2011). Sie wurden faktorenanalytisch überprüft und revidiert. Die Schemata bilden jedoch keine vollständige Systematik auf dem Hintergrund einer Persönlichkeitstheorie ab, da sie sich gegenseitig bedingen (Roediger, 2011). Genauso wie die diagnostischen Fragebögen, die überwiegend nicht die Gütekriterien von Tests erfüllen (Roediger, 2011), so ist das Schemamodell, als empirisch gewonnenes Modell, als praktisch hilfreicher Ansatz für die Therapie zu sehen (Roediger, 2011).

Im Folgenden werde ich nur auf die erste Schemadomäne „Abgetrenntheit und Ablehnung“ eingehen, da erlittene Verletzungen und Frustration im Grundbedürfnis nach „sicherer Bindung zu einem Menschen“ die schwerwiegendsten Folgen haben (Young et al., 2008). Aus diesem Grund nehme ich auch an, dass diese Schemadomäne und die entsprechenden Schemata am ehesten in Märchen ihre Entsprechung finden, die ein allgemeinmenschliches und kulturelles Erbgut von Beziehungsgeschichten darstellen und symbolisch neue Lösungswege aufzeigen. Zudem möchte ich meinen Fokus exemplarisch auf das Schema „Verlassenheit und Instabilität (im Stich gelassen)“ legen, da Bowlbys Bindungstheorie die Entwicklung dieses Schemas stark beeinflusst hat (Young et al., 2008). Bowlbys Annahme eines Bindungsinstinktes stimmt wiederum mit dem biologischen Modell der Archentypenlehre überein, in dem Jung die Archetypen als „pattern of behaviour“ und als „Instinkte“ sieht (Jung, 1995f, § 1228, 1995c, § 565) und in Märchen offenbaren sich für Jung die Archetypen „in ihrem natürlichen Zusammenspiel“ (Jung, 1995e, § 400). Zusammenfassend kann man sagen, „… dass es sich bei den Archetypen um anthropologische Konstanten des Erlebens, des Abbildens, des Verarbeitens und des Verhaltens handelt“ (Kast, 2002, S. 115). Sie stellen universale psychische Strukturelemente dar, die die allgemeinen Erfahrungen der Menschheit widerspiegeln (Dorst, 2007).

Zur Erläuterung des klinischen und gegebenenfalls archetypischen Wertes von einzelnen Schemata und zur Darstellung der Parallelen zu den Komplexepisoden beziehe ich mich in Tabelle 1 nur auf die Schemata der ersten Domäne „Abgetrenntheit und Ablehnung“ in Anlehnung an Roediger (2011). Er verdeutlicht die möglichen Entstehungsbedingungen eines Schemas in dieser Domäne anhand des vorherrschenden Eltern- oder Bezugspersonenverhaltens und der daraus resultierenden Kognition. Das Schemamodell stellt eine weitere Ausdifferenzierung der negativen Elternkomplexe auf der Ebene von Komplexepisoden dar (McMahon, 2014). Aus jungscher Sicht würden die Schemata der Domäne „Abgetrenntheit und Ablehnung“ dem mütterlichen Bereich und dem negativen Pol des Mutterkomplexes und damit auch des negativen Mutterarchetyps als Urbild (Asper, 2003) entsprechen. Dies ist nicht als geschlechtsspezifisch und nicht als an die persönlichen Eltern gebunden zu verstehen: Mütterliches kann vom Vater und Väterliches von der Mutter vermittelt werden. Es handelt sich um psychische Qualitäten, die sowohl in Männern wie in Frauen potentiell vorhanden sind. Die Komplexepisode „Irgendwie werde ich immer im Stich gelassen“, die dem Schema „Verlassenheit und Instabilität (im Stich gelassen)“ entspricht, würde der Erfahrung eines negativen Mutterkomplexes gleichkommen, wobei dieser sich dann aus mehreren Komplexepisoden oder Schemata zusammensetzt, die die negative Erfahrung der „Abgetrenntheit und Ablehnung“ thematisieren.

Schemadomäne: Abgetrenntheit und Ablehnung

         

Schema

 

Elternverhalten

 

Kognition

         

1. Emotionale Vernachlässigung

 

Vernachlässigung, Kälte/Ablehnung

 

Ich bin wertlos, überflüssig.

Ich muss alles selbst tun, weil mir niemand hilft.

         

2. Verlassenheit und Instabilität (im Stich gelassen)

 

instabile Zuwendung, Wechsel von Fürsorge und Alleinlassen

 

Alles, was ich habe, werde ich wieder verlieren. Auch wenn es mir gut geht, droht jederzeit wieder Unglück.

         

3.Misstrauen/ Missbrauch

 

emotionaler, körperlicher oder sexueller Missbrauch

 

Nähe tut weh. Andere sind böse zu mir. Ich habe es nicht besser verdient.

         

4.Soziale Isolation

 

Wagenburg-Familien, soziale oder ethnische Minderheiten

 

Ich bin anders als die anderen.

Ich werde nicht verstanden.

         

5. Unzulänglichkeit/ Scham

 

dem Kind vermitteln, es sei nicht liebenswert, es aktiv demütigen, herabsetzen oder benachteiligen

 

Ich bin nicht okay, und das werden die anderen bald merken.

Ich bin an allem schuld.

Tabelle 1: Schema, Elternverhalten und Kognition bei Schemata der ersten Domäne „Abgetrenntheit und Ablehnung“ in Anlehnung an Roediger (2011)

Bei der Identifikation mit Teilaspekten einer Komplexepisode unterscheidet Kast (2008) den Erwachsenen- und den Kind-Pol. In der Schematherapie wird diesbezüglich von einem (Innere-)Eltern-Modus und vom Kind-Modus gesprochen (Roediger, 2009). Unter einem Modus wird in der Schematherapie ein aktuell beschreib- oder erlebbarer momentaner Zustand („state“) der Persönlichkeit beschrieben. Ein Schema hingegen ist nicht unmittelbar erleb- und beschreibbar, weil es sich nach Roediger, um eine Abstraktion einer hintergründigen Erregungsbereitschaft im Sinne eines Wesenszuges („trait“) handelt. Die Modi fokussieren zudem stärker auf die aktuell aktivierten, zum Teil konflikthaften inneren kognitiv-emotional-körperhaltungsbezogenen Zustände sowie ihre Klärung und Bewältigung (Roediger, 2011) und können das Resultat der Aktivierung mehrerer Schemata sein (Itten, 2011). Nach Roediger (2011, S. 97) hat sich die Arbeit mit dem „erlebnisnäheren Modusmodell“ anstatt der Arbeit auf Ebene der Schemata bewährt, solange die zugrunde liegenden Schemata der Therapeutin bekannt sind und die damit im Zusammenhang stehenden frustrierten Grundbedürfnisse in der Therapie berücksichtigt werden. Berbalk (Itten, 2011) wiederum postuliert eine umfassendere Sicht und Kombination aus einer Arbeit mit Modi und Schemata, um wichtige Personanteile (Schemamuster) im Zusammenhang mit den zugehörigen Modi nicht unberücksichtigt zu lassen. Zwischen den „Schemamustern“ und dem, was in der Analytischen Psychologie vollumfänglich unter einem Komplex (z. B. Mutter- oder Vaterkomplex) zu verstehen ist, könnte ein Zusammenhang bestehen. Kast bringt zur Erklärung von Vater- und Mutterkomplex die Idee von der „Generalisierung der generalisierten Episoden“ (Kast, 1998, S. 110) auf und verwirft sie wieder (Kast, 1998), was meines Erachtens innerhalb der Analytischen Psychologie und mit Schematherapeuten unter Berücksichtigung der Schemadomänen weiter zu diskutieren wäre.

Der Erwachsenen- und der Kind-Pol sowie die Eltern- und Kind-Modi repräsentieren also internalisierte negative Annahmen (z. B. dysfunktionale Eltern-Modi, als strafend oder fordernd erlebt) und aktuelle intensive emotionale Zustände (z. B. folgende Kind-Modi: verlassen, traurig, wütend). Laut Jacob und Arntz (2011) ähnelt dies dem Ego-State-Konzept von Watkins und Watkins (2003). Das Ego-State-Konzept wiederum diente Reddemann für ihre psychodynamische imaginative Traumatherapie als konzeptuelle Grundlage. Auch sie verweist bei der Arbeit mit dem inneren Kind als Ego-State-Therapie auf C. G. Jung und seine Archetypen- und Komplexlehre (Reddemann, 2005).

Roediger (2011) vergleicht in Anlehnung an Greenberg et al. (2003) das emotionale Erleben der Kind-Modi mit den präkognitiven Basis-Emotionen wie Wut, Trauer, Furcht, Ekel, Überraschung und Freude, die aktuell auftreten und noch nicht verarbeitet sind. Ziel beider Ansätze ist es, die negativen kognitiven Bewertungen zu modifizieren und das primäre Erleben der kindlich emotionalen Zustände bewusst zu machen. Das bedeutet, sie als innere Gestalten und als eigene innere Anteile anzunehmen, Verantwortung und Empathie für diese zu entwickeln (Schlegel & Kast, 2009) und auch einen Prozess der Mentalisierung in Gang zu setzen, d.h. sich dabei im Sinne von Fonagy et al. auch Klarheit über den eigenen psychischen Zustand zu verschaffen (Schlegel, 2013). Damit könnten die frustrierten Grundbedürfnisse, die zur Herausbildung des Schemas oder der Komplexepisode geführt haben, erkannt und im therapeutischen Prozess, auf die eine oder andere Art je nach therapeutischer Ausrichtung und Mentalisierungsfähigkeit der Patientin, befriedigt werden. Dies ist jedoch nicht immer so einfach, da diese primären emotionalen Zustände schmerzhaft sind und umgangen oder abgewehrt und kompensiert werden.

Der wesentliche Punkt in beiden theoretischen Ansätzen ist, dass es im Zuge eines jeweiligen Schemas oder Schemamusters, einer Komplexepisode oder eines aus mehreren Komplexepisoden entstandenen Komplexes zu stereotypen Reaktionstendenzen (Abwehr-, Kompensations- und Bewältigungsverhalten) kommt. Besteht eine Ähnlichkeit zwischen der aktuellen Situation und den Situationen, die zur Herausbildung des abgespeicherten Schemas führten, werden nach Roediger (2011) ohne Beteiligung von kognitiven Verarbeitungsschritten präkognitive Emotionen und automatisierte Reaktionstendenzen aktiviert. Der Mensch reagiert damit auf diese Situation nicht mehr angemessen, „sondern aus einem lebensgeschichtlichen Überhang“ (Kast, 2007, S. 12 f) heraus. Bleibt es bei dieser „Fixierung“ (Roediger 2011, S. 95; Jung, 1995b) in einem früheren Entwicklungsstand, die den komplexen Anforderungen der Umwelt nicht mehr genügen kann, dann sehen sowohl Jung als auch Roediger sie als Grund an, warum Menschen manifeste klinische Symptome entwickeln können. Roediger (2011) bezieht dies ganz konkret auf das Bewältigungsverhalten: Die einstigen Lösungsversuche versagen, weil das Bewältigungsverhalten selbst zum Problem wird.

Zur Erläuterung dieser fixierten und stereotypen Verhaltensweisen verweist Kast (2002) unter anderem auf die von der Psychoanalyse beschriebenen Abwehrmechanismen oder auf Kompensationsmechanismen, wie z. B. Grössenfantasien bei drohender Fragmentierung. In der Schematherapie werden sie im Schemamodell als Bewältigungsreaktionen und im Modusmodell als Bewältigungsmodi bezeichnet: „… die Schemata aktivieren zunächst innerlich erlebte primäre Emotionen (sog. Kind-Modi) und kognitive Bewertungen (sog. Eltern-Modi) und ‹treiben› bzw. steuern das sichtbare Verhalten des Bewältigungsmodus …“ (Roediger, 2011, S. 11).

Eine Bewältigungsreaktion im Schemamodell ist gemäss Berbalk (Itten, 2011) die Antwort auf ein aktiviertes Schema (siehe unten das Fallbeispiel unter „Bewältigungsstile“), während den Bewältigungsmodi mehrere Schemata oder ein Schemamuster zugrunde liegen können. Unter Bewältigungsmodi werden demnach sichtbare Handlungen der Patientin verstanden, die helfen, das aus den Eltern- und Kind-Modi resultierende emotionale Leid, zu erdulden, zu vermeiden oder zu kompensieren (Jacob & Arntz, 2011). Beispiel dafür ist der Zustand eines „ärgerlichen Beschützers“, der z. B. vermeiden hilft, die Spannung zwischen dem emotionalen Schmerz des Modus eines „verlassenen Kinds“ und einem gleichzeitig z. B. emotional fordernden Eltern-Modus („Ich darf meine Partnerin mit meinen Bedürfnissen nicht belasten, da sie dann unglücklich wird.“) erleben zu müssen. Dieser vermeidende Bewältigungsmodus des „ärgerlichen Beschützers“ kann sich z. B. darin ausdrücken, dass das Zeigen von Ärger und Schimpfen über andere als Mittel zur Herstellung von Distanz eingesetzt wird, um nicht über eigene (emotionale) Probleme reden zu müssen (Jacob & Arntz, 2011).

Die Bewältigungsstile der Erduldung, Vermeidung und der Kompensation sind übergeordnet zu verstehen und zeigen sich sowohl bei den Bewältigungsreaktionen als auch bei den Bewältigungsmodi. Der Einfachheit halber erkläre ich sie anhand der verschiedenen Bewältigungsreaktionen im Schemamodell.

Bewältigungsstile

Um Schemaaktivierung zu bewältigen sind grundsätzlich drei Bewältigungsstile möglich: Erduldung, Vermeidung oder Kompensation. Durch spezifische Bewältigungsreaktionen erhalten diese Stile bei der Schemabewältigung ihren Ausdruck.

Für Young et al. (2008) bilden Schemata das Zentrum der Persönlichkeitsstörungen, während die Bewältigungsreaktionen darauf, die im DSM IV (Saß et al., 2003) beschriebenen diagnostischen Kriterien und pathologischen Verhaltensmuster abbilden. Aus diesem Grund sollte bei Störungen auf charakterologischer Ebene das vordringlichste Ziel sein, die hinter den Bewältigungsreaktionen liegenden Schemata zu verändern, da diese die Patientinnen zu diesen Reaktionen veranlassen. Bewältigungsreaktionen können nach Young et al. (2008) je nach Schema, Lebensphase und Lebenssituation variieren, sodass der Eindruck entsteht, die Symptomatik habe sich verbessert, während das maladaptive Schema im Hintergrund bestehen bleibt. Jede Patientin hat für Young et al. ein einzigartiges Profil aus Schemata und Bewältigungsreaktionen, die aus diesem Grund gemeinsam angeschaut und verändert werden sollten.

Zur Verdeutlichung der verschiedenen Stile der Schemabewältigung verwende ich ein vereinfachtes Fallbeispiel zum Schema „Verlassenheit und Instabilität (im Stich gelassen)“ aus der Literatur.

Das vorherrschende Gefühl (im Kind-Modus) ist ein Verlassenheitsgefühl, das als solches nicht wahrgenommen werden muss oder gemieden wird und sich stattdessen z. B. in Panikattacken und dissoziativem Erleben äussern kann wie im folgenden Fallbeispiel von Jacob und Arntz (2011).

Eine 25-jährige BWL-Studentin leidet unter beiden Symptomen nachdem sie längere Zeit mit ihrer Familie, zu der sie eine gute Beziehung hat, verbracht hat und wieder allein zu ihrem Studienort fährt. Ihre Mutter war gestorben, als sie 2 Jahre alt war, und ihre Stiefmutter, zu der sie ebenfalls ein enges Verhältnis aufbauen konnte, verstarb an einer Hirnblutung, als die Patientin 16 Jahre alt war. Ausser zu ihrer Familie habe sie nur oberflächliche Beziehungen, obwohl sie nicht wisse, was sie abschrecke, aber sie könne sich nicht vorstellen, dass jemand wirklich lange für sie da sei.

Begleitende Kognitionen dieses Schemas können sein: „Alles, was ich habe, werde ich wieder verlieren. Wenn es mal gut geht, hält das nie lange an!“

Mögliche dysfunktionale Bewältigungsreaktionen je Bewältigungsstil können sich wie folgt zeigen (Young et al., 2008; Roediger, 2011):

Roediger (2011) sieht die fixierten Bewältigungsstile des Erduldens, des Vermeidens und der Kompensation als dysfunktionale Ausformungen von biologisch angelegten und beobachtbaren Reaktionsmustern in Konflikten bei Tieren: sich unterwerfen (erdulden), passiv erstarren (vermeiden), aktiv kämpfen (überkompensieren). Hier zeigt sich mir ein zu diskutierender Anknüpfungspunkt für die biologische Richtung der Archetypenlehre, wie sie Schlegel in Verbindung zur Ethologie beschreibt (Schlegel & Kast, 2009). Dabei leitet er die Archetypentheorie aus dem natürlichen Verhalten des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der Menschenaffen, ab. Verhaltensprogramme wie z. B. die Demutsgebärde, als Äquivalent zu einem erduldenden Bewältigungsstil, die eine bestimmte Körperhaltung, einen bestimmten Blick und eventuell bestimmte Geräusche beinhaltet, sind bei Affen wie bei Menschen, wenn sie z. B. betteln, biologisch begründbar und haben sich evolutiv entwickelt. Durch die Inszenierung einer Demutsgebärde werden bestimmte Verhaltensmuster angesprochen: Aggressionshemmung und Altruismus. Die Inszenierung einer Demutsgebärde, z. B. durch einen Bettler, wäre für Schlegel (2011) die Darstellung eines archetypischen Bildes. Dabei sieht er die Verbindung zur Genetik über die höhere Ebene des Verhaltens. Somit müssten sich die Bewältigungsstile ebenfalls in Märchen vorfinden lassen.

Neben seinen Erfahrungen mit psychotischen Fantasien seiner Patientinnen und ihrem potentiellem Zusammenhang mit mythologischen Motiven lieferten Jung die Ergebnisse seiner Assoziationsstudien zur Diagnostik von Komplexen wichtige Hinweise auf archetypische Strukturen. Laut Roesler (2010) entdeckte Jung, dass es einige Komplexe gab, die bei vielen Probanden vorkamen. Jung nannte diesen übereinstimmenden inhaltlichen Kern Urbild oder Archetyp. Im Verlauf seines Lebens betrachtete Jung die Archetypen aus verschiedenen Blickwinkeln (Knox, 2003; Roesler, 2010), zudem gibt Roesler (2010) einen Überblick über die vorliegende Forschung zum Nachweis von Archetypen. Ich beziehe mich mit Schlegel auf die biologische Perspektive, da sie der Verhaltenstherapie am nächsten steht.

Bei der Schemabewältigung geht es um Bewältigungsreaktionen im Sinne von Abwehrmechanismen zur Affektregulation, um die Aktivierung bestimmter Schemata und damit verbundener unangenehmer Gefühle zu umgehen oder mit belastenden Schemata umzugehen. Dabei sind die einzelnen Bewältigungsreaktionen nicht a priori als pathologisch zu betrachten. Beide Ansätze halten es für wichtig, dass es bei der Abwehr oder Kompensation bzw. Schemabewältigung nicht zu einer Fixierung von Verhalten kommt, sondern dass Abwehr-, Kompensations- und Bewältigungsverhalten flexibel eingesetzt wird, soweit keine Persönlichkeitsstörung vorliegt, die eine Fixierung von bestimmtem Bewältigungsverhalten bedingt. Aus situativen Bewältigungsreaktionen sind in diesem Fall stabile und zumeist dysfunktionale Bewältigungsstile geworden, die die Ressourcen des Erwachsenenalters unberücksichtigt lassen und keine neuen Problemlösungsstrategien zulassen (Roediger, 2011). Ehemals funktionale Bewältigungsreaktionen, soweit sie stereotyp beibehalten werden, können mit zunehmendem Alter jedoch immer mehr selbst zu einem Problem und damit dysfunktional werden, unabhängig davon, ob eine Persönlichkeitsstörung vorliegt oder nicht. Somit könnten sie theoretisch auch als Basis anderer Störungsbilder dienen.

Menschen können laut Roediger auch mehrere Bewältigungsstile anwenden, sodass sie kombiniert oder im Wechsel auftreten, was ihre Benennung und Bewusstmachung nicht erleichtert. Dies gilt auch für die Arbeit mit den Bewältigungsmodi. Klinische Symptome entstehen nach Roediger in Anlehnung an Grawe (1998) dann, wenn auch die dysfunktionalen Bewältigungsmodi nicht dazu beitragen können, dass sich die innere Spannung reduziert, die sich aus dem Konflikt zwischen den Bedürfnissen der Kind-Modi und den Forderungen der Eltern-Modi ergibt: „Im funktionellen Symptom ‹gerinnt› sozusagen die psychische Anspannung des Kind-Modus in ein Symbol, das der nicht verbalisierbaren physiologischen Anspannung einen Ausdruck gibt“ (Roediger, 2011, S. 121).

In der Analytischen Psychologie wird auch davon ausgegangen, dass Symbole die Verarbeitungsstätte der Komplexe sind (Kast, 1991). Symbole sind Bilder, die sich wie folgt zeigen können: in Träumen, Traummotiven, Imaginationen, Tagträumen und spontanen Fantasiebildern, in Märchenbildern und -motiven, gemalten Bildern, Sandbildern, bildhaften verbalen Äusserungen („Ich muss doch vorbereitet sein, wenn mir wieder der Hahn abgedreht wird.“), im Körper als Emotion und als Symptom. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sich in etwas Äusserem etwas Inneres, z. B. ein unbewusster Konflikt, offenbart. Märchen drücken sich in Symbolen aus und es wird die bildhafte, imaginative Seite eines Menschen angesprochen (Kast, 2003), sie entsprechen der Gefühlswelt von Kindern. Die Beschäftigung mit Märchen kann helfen, diese Gefühlswelt zu erschliessen, d. h., ein emotionales Nachvollziehen der Kind-Modi oder des Kind-Pols zu ermöglichen.

Etwa vier Fünftel aller Märchen sind Beziehungsgeschichten (Kast, 1992), ein enormer Fundus für Schemata und Komplexepisoden. Kast (2007) beschreibt die archetypische Wirkung anhand des Auftretens von vergleichbaren Emotionen in archetypischen Situationen, die nicht bewusst abgerufen werden müssen und bei allen Menschen in existenziell bedeutsamen Situationen ähnlich vorkommen: z. B. Trauer bei Trennung oder Verlust; Freude, wenn etwas besser ausfällt als erwartet; Ärger, wenn jemand Grenzen verletzt; depressive Gefühle, wenn der Sinn im Leben fehlt. Alles Themen, die man in Märchen immer wieder vorfindet, auch wenn sie in symbolischer Form verschlüsselt vorliegen. Damit bieten Märchen innerhalb des therapeutischen Prozesses unter anderem die Möglichkeit, die primären Emotionen der Kind-Modi oder des Kind-Pols unter Einbeziehung eines gemeinsamen „Dritten“ als „joint referencing“ (Roediger, 2009, S. 59) zunächst einmal empathisch und mit Distanz anzuschauen. Dies eröffnet Möglichkeiten zur Bewusstwerdung, zur Entwicklung von Empathie für diese Zustände, damit für sich selbst und zur Mentalisierung.

Die Patientin wird zunächst mit ihrem (unbewussten) emotionalen Konflikt oder Leiden von der Therapeutin durch Empathie und Gegenübertragung, bei der emotionale Zustände und andere Phänomene von der Therapeutin bei sich wahrgenommen, aber der Patientin zugeschrieben werden, erkannt. Im Märchen wird dann das persönliche Leid in einen grösseren und allgemeinmenschlichen Zusammenhang gespiegelt (Kast, 2002). Der Patientin wird durch den Einfall eines Märchens seitens der Therapeutin das Gefühl vermittelt, einen Platz in der Psyche der Therapeutin innezuhaben, ähnlich wie die Mutter oder primäre Bezugsperson es beim Kind machen sollte. Die Akzeptanz der Widerstände, Widersprüche und Konflikte der Patientin und die Bereitschaft, Unbewusstes ernst zu nehmen, vermittelt der Patientin die „transzendente Funktion“ (Kuptz-Klimpel, 2003). Aus jungscher Sicht wird die Selbstregulation der Psyche über die „transzendente Funktion“ angesprochen. Sie verbindet Unbewusstes mit Bewusstem, ohne den Bezug zum Unbewussten zu verlieren, und ermöglicht damit eine neue Einstellung (Jung, 1995d, § 145).

Bovensiepen (2002) verdeutlicht diese symbolische Einstellung, die eine jungsche Therapeutin einnehmen sollte, um die Symbolisierungsfähigkeit und damit die Entfaltung der transzendenten Funktion bei Menschen, die aufgrund ihrer Störungen Defizite in diesem Bereich aufweisen (Jacoby, 1998), erst einmal zu fördern. Dazu beschreibt er das Fallbeispiel eines 10-jährigen Jungen, mit dem er gemeinsam in der Therapie Bildergeschichten gemalt hat. Die Entfaltung der transzendenten Funktion wurde von der genannten Einstellung des Analytikers unterstützt und zeigte sich darin, dass sich der Junge innerhalb der Therapie langsam einen symbolischen Raum erschliessen und er in seinem Inneren einen psychischen Raum entwickeln konnte (Bovensiepen, 2002). Dies wiederum machte sich auch daran bemerkbar, dass der Junge nach ca. eineinhalb Jahren der Behandlung anfing zu reflektieren. Damit gehört die transzendente Funktion laut Bovensiepen (2004) auch zu einer Theorie der Mentalisierung.

Anhand einer vereinfachten Zusammenfassung des Märchens „Der Pilger“ aus Pommern (Kast, 1992) möchte ich nun darlegen, wie die Schemadomäne „Abgetrenntheit und Ablehnung“, das maladaptive Schema „Verlassenheit und Instabilität (im Stich gelassen)“, dessen Bewältigung und mögliche Modi bildhaft angesprochen werden. Dabei treten diese am deutlichsten hervor, wenn man der Erzählung und den Bildern aus einer Kindposition heraus folgt.

Ich erhebe nachfolgend keinen Anspruch auf eine vollständige in sich stimmige Märcheninterpretation, die alle wichtigen Symbole, Wendungen, Ressourcen und neuen Lösungswege berücksichtigt. Ich verstehe die Erzählung jedoch unter einer subjektstufigen Sicht, d. h., dass vorkommende Personen und Figuren als eigene innere Anteile verstanden werden können. Märchen können aus verschiedenen Blickwinkeln heraus interpretiert werden (Kast, 1987), die Zulässigkeit einer Interpretation ergibt sich unter anderem aus der Stimmigkeit und konsequenten Einhaltung einer Sichtweise (Jacoby et al., 1978). Ich benutze in diesem Fall die Brille des Schemamodells, mit einer anderen Brille würde man die ausgewählten Szenen und Symbole anders interpretieren. Ich danke Eckhard Roediger und Christoph Fuhrhans für ihre ergänzenden Anmerkungen zu meiner Märcheninterpretation, die auch zu einer weiteren Diskussion der folgenden Punkte anregen.

Aus schematherapeutischer Sicht ist es wichtig, zwischen Symbolebene (bildhafte, psychodynamische, eventuell archetypische Ebene) und Handlungsebene (z. B. Bewältigungsstile) genau zu unterscheiden.

Der soziokulturelle Kontext des Märchens kann auf das Vorkommen von Schemata in Märchen einen Einfluss haben (wobei hier zu differenzieren wäre, ob dies für bedingungslos und bedingt gültige Schemata gleichermassen gilt).

Es sind verschiedene schematherapeutische Interpretationen der Märchen-Szenen hinsichtlich vorkommender Modi möglich.

Zudem wurde deutlich, dass dieses Märchen auch auf der Ebene der Paarbeziehung von Prinzessin und Prinz betrachtet werden kann, wofür eine eher objektstufige Sichtweise einzunehmen wäre. Von diesem Blickwinkel aus gesehen erzählt das Märchen davon, welche Entwicklungs- und Beziehungsaufgaben (z. B. bezogen auf bestimmte Modi) anstehen, wenn Menschen mit dem Schema „Verlassenheit und Instabilität“ (Kognition: „Alles, was ich habe, werde ich wieder verlieren. Auch wenn es mir gut geht, droht jederzeit wieder Unglück.“) von Menschen mit dem Schema „Anspruchshaltung und Grandiosität“ (Kognition: „Ich kann alles haben, das steht mir zu. Für mich gelten andere Regeln. Ich bin etwas Besonderes und verdiene etwas Besonderes.“) fasziniert werden und umgekehrt.

Die nachfolgende und für diesen Rahmen verkürzte (dadurch unvollständige) subjektstufige Märcheninterpretation gibt in diesem Sinne erste Ideen wieder, die mit Bezug zum Originalmärchen weiter auszuarbeiten und zu diskutieren sind.

Das Märchen „Der Pilger“

Die schönste Prinzessin, die je ein Mensch gesehen hatte, wird von ihrem Vater am Grunde eines Sees weit hinten im Schlossgarten verborgen. – Kind-Modus „verlassenes Kind“ wird vorstellbar; das Thema Unerreichbarkeit wird symbolisch angedeutet und die Schemadomäne Abgetrenntheit vom Weiblich-Mütterlichen scheint so selbstverständlich, dass eine Mutter oder zweite weibliche Figur im ganzen Märchen nicht erwähnt wird und sogar der Titel in männlicher Form gefasst ist. –

Zu ihrem Geburtstag besucht ihr Vater sie und bringt ihr eine wunderschöne Drehorgel, die er allerdings nur geliehen hat und wieder zurückgeben muss. – Das Schema generierende Elternverhalten fällt auf: instabile Zuwendung, Wechsel von Fürsorge und Alleinlassen. – „Väterchen, du hast also doch nicht meinen Geburtstag vergessen und bringst mir ein solch schönes Geschenk, dass ich einen Trost habe hier in dem hohen Schlosse tief unter dem Wasser?“ Der König darauf: „Mein liebes Kind, diese Orgel will ich dir nur zeigen. Schenken kann ich sie dir nicht, weil sie ihrem Herrn um alle Schätze der Welt nicht feil ist.“ „Wenn du mir die Orgel nicht schenken kannst, dann hättest du sie mir gar nicht zeigen sollen!“, antwortete die Prinzessin und schnapp! schlug sie ihrem Vater das Fenster vor der Nase zu und liess ihn draussen stehen. – Vermeidender Bewältigungsmodus des „ärgerlichen Beschützers“, zum Schutz vor emotionalem Schmerz des Modus des „verlassenen Kinds“, der eigentlich mit ihrem Vater zu thematisieren wäre, wobei mir ihre Aussage im Gegensatz zu ihrer Reaktion durchaus als angemessen zu werten erscheint. Auch die Modi des „undisziplinierten“ und „wütenden Kinds“ werden vorstellbar. –

Ein Prinz sieht das Bildnis dieser unbekannten, verborgenen und wunderschönen Prinzessin im Schlafgemach seines Vaters und kann sich an ihr nicht satt sehen. – Weitere symbolisch-bildhafte Andeutung der Unerreichbarkeit und deren Faszination. – Gegen alle Widerstände will er zu ihr. – Kompensatorische Bewältigung des Gefühls der Unerreichbarkeit des Anderen. – Der Vater wurde daraufhin zornig und verweigerte ihm zu Lebzeiten jegliche Auskunft. – Elternverhalten: instabile Zuwendung, Wechsel von Fürsorge und Alleinlassen. Zudem Hinweis auf ein generationsübergreifendes Schema der Verlassenheit verbunden mit dem Thema der Unerreichbarkeit und Bewältigung durch vermeidenden Bewältigungsstil. –

Durch eine List, die dem Prinzen, als er selbst König wird, ein alter Zauberer verrät, findet er den Weg zur Prinzessin. Er muss dafür eine Drehorgel und ein Schiff bauen, das sowohl zu Land als auch zu Wasser fährt. Der Bruder des jungen Königs leiht deshalb dem Vater der Prinzessin die selbstgebaute Drehorgel nur, weil er den Branntwein gewohnt ist und befürchtet, er würde das ganze Geld des Vaters der Prinzessin ausgeben. Während der Vater, wie bereits gehört, mit der Drehorgel, in der sich der junge König versteckt, zur Prinzessin geht, vergnügt sich der Bruder des jungen Königs in den teuersten Wirtshäusern auf Rechnung des Königs. – Bewältigungsreaktion der Vermeidung: trinkt viel, wenn allein. Ein Bruder oder eine Schwester im Märchen können Schattenaspekte darstellen, also all das, was man selbst an sich nicht wahrhaben will. –

Als der junge König den Weg zur Prinzessin gefunden hat, ruft er sie beim Namen und fragte sie, ob sie mit ihm kommen möchte, er befreie sie aus dem Gefängnis. Anfangs erschrak sie, als sie den fremden Mann erblickte; da er aber schön von Angesicht war und sie zu befreien versprach, liess sie sich nicht lange bitten, sondern kam zu ihm heraus. In der Folge heiraten die beiden.

Der junge König verlässt seine Frau für eine Lustfahrt mit seinem Bruder auf dem wunderbaren Schiff und wird von einem mächtigen Sultan gefangen genommen. – Bewältigungsreaktion der Erduldung auf Seiten der nun jungen Königin: Beziehung zu unzuverlässigen Menschen suchen. Zudem kommt die Kognition auf: „Alles, was ich habe, werde ich wieder verlieren. Auch wenn es mir gut geht, droht jederzeit wieder Unglück.“ Subjektstufig kann der junge König als ein eigener unzuverlässiger Anteil gesehen werden. –

Die Prinzessin wird in der Folge auch von dem mächtigen Sultan gefangen genommen, weil sie sich, als Pilger verkleidet, auf die Suche nach ihrem Mann macht, obwohl sie nicht weiss, wo er ist. – Kompensatorische Bewältigung des Gefühls des Verlassenwerdens. Zudem kann die Pilgerreise als Motiv zur Läuterung von dysfunktionalen Modi hin zum Gesunden-Erwachsenen-Modus verstanden werden. – Durch ihre besondere Gabe des Gesangs und Harfespiels befreit sie ihren Mann und seinen Bruder aus der Gefangenschaft. Als sie ihm auf sein Schloss nachfolgt, erkennt ihr Mann sie kaum, obwohl sie ihr Pilgerkleid abgelegt hat, wohl auch weil er eifersüchtig ist, da ihm die Frau seines Bruders diesbezüglich einen Floh ins Ohr gesetzt hat und gegen die junge Königin intrigiert. – Kompensatorische Bewältigung der Eifersucht. – Von Anfang an missgönnt sie der jungen Königin ihre Schönheit und Macht. – Bewältigungsreaktion der Erduldung: Eifersucht in Beziehungen. – Der junge König stösst seine zurückgekehrte Frau mit dem Fuss von sich weg, sodass sie ohnmächtig wird. Als sie wieder erwacht, liegt sie drei Tage lang in einem kahlen, schmutzigen, dunklen Keller. – Symbolisch-bildhafte Andeutung, dass im Unbewussten „tiefste Ablehnung“ schlummert, die durch „Abschottung“ im Sinne einer Introversion bewusst gemacht werden kann. – Dann wurde sie auf den Scheiterhaufen gebracht und der Landstreicherei und Hexerei angeklagt. Über ihren Gesang und ihr Harfespiel, das ihr als letzter Gnadenakt genehmigt wird, erkennen die Brüder sie unter Weinen und mit Reue als ehemalige Retterin. Die böse Schwägerin aber wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Auf der Handlungsebene propagiert das Märchen vor allem ein Wechselspiel der Bewältigungsstile. Erdulden und Kompensation scheinen mir vorrangig und bringen Entwicklung, wobei der Grad der Dysfunktionalität auch im Zusammenhang mit einem vermeidenden Bewältigungsstil nicht immer per se gegeben ist. Gerade in diesem Wechselspiel der Bewältigungsstile liegt unter anderem psychische Gesundheit verborgen und vielleicht besteht darin auch eine heilende Wirkung von Märchen.

Insbesondere durch die kompensatorische Bewältigung der Eifersucht durch Intrigieren spitzt sich die Situation zu und der Scheiterhaufen, Leid und Tod, droht, was für die letztendliche Rettung anscheinend notwendig ist. Die Rettung kommt dadurch zustande, dass die Prinzessin durch ihr Harfespiel und ihren Gesang einen Weg gefunden hat, ihre innere Verletzung, die Ablehnung, d. h. auch ihren Modus des vulnerablen Kinds anzuerkennen, zu erdulden und über ihn „emotional anrührend“ zu kommunizieren. Erst dann finden eine wirkliche Begegnung und ein Erkennen des jungen Königs, seines Bruders und der jungen Königin statt. Dies kann dafür stehen, dass subjektstufig eine neues Bewusstsein für und eine neue Beziehung zu diesen inneren Anteilen über Mitgefühl zu sich selbst im Sinne einer Integration durch den Gesunden-Erwachsenen-Modus hergestellt wird. Die kompensatorische Bewältigung der Eifersucht durch Intrigieren wird nicht mehr benötigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

In der Regel wird der Einfall eines Märchens als eine spezielle Form der Gegenübertragung betrachtet, die vermittelt, dass die Therapeutin bereit ist, die vorkommenden Figuren und Handlungen in einen Zwischenbereich der therapeutischen Beziehung anzusiedeln (Kast, 2002). Zu welchem Zeitpunkt ein Märchen innerhalb des therapeutischen Prozesses eingesetzt wird und wie, sind Fragen, die unter Berücksichtigung der Ressourcen und Bedürfnisse der Patientin an anderer Stelle weiter diskutiert werden müssten. Die Zuordnung von Märchen zu Schemata erfolgt bei mir auch aus Kenntnis von Einzelfällen, bei denen ich das Märchen angewandt habe und sich das entsprechende Schema oder die Komplexepisode zu erkennen gegeben hatte. Ob sich damit neben der empirischen Unterstützung (Young et al., 2008) auch eine archetypische Relevanz der Schemata und Bewältigungsstile ergibt und somit eine generelle Zuordnung von Märchen zu einem bestimmten Schema überhaupt Sinn macht, wird die weitere Praxis und Analyse von weiteren Märchen zeigen.

Autorin

Pia McMahon, Dipl. Psychologin, schloss ihr Psychologie-Studium an der Universität in Bremen (D) ab. Ausbildung zur Analytikerin und Psychotherapeutin am C.G. Jung-Institut. Dozentin am C.G. Jung-Institut, Analytikerin an einer internationalen Managementschule und Delegierte Psychotherapeutin in einer psychosomatischen Praxis.

Korrespondenz

Psychosomatik Praxis

Pia McMahon

Hasenbergstrasse 7

8953 Dietikon

E-Mail: p.mcmahon@psychosomatik-praxis.ch

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